Hauptrubrik
Banner Full-Size

Rückblende: Vor 100 Jahren

Untertitel
Klavierschulen der Konservatorien und Musikakademien
Publikationsdatum
Body

„[…] Sollen wirklich die Klavierschulen Bedeutendes leisten, so müßten folgende Bedingungen eingehalten werden: …

1. Es dürfen nur talentierte Schüler aufgenommen werden. Pekuniäre Rücksichten müssen außer Betracht kommen.

2. Der Vorbildungslehrer muß ein ausgezeichneter Pädagoge sein, der mit Liebe die erste Vorbildung durchführt, zuerst die Finger und das Handgelenk bildet, jedoch durch übertrie-benes Studium der Technik dem Schüler nicht die Lust zur Kunst nimmt. Denn die Technik ist ja nur Mittel zum Zwecke des Vortrages, so wie die Fuge nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel des Ausdrucks ist.

3. Ueber die Qualitäten des Ausbildungslehrers habe ich mich vorher schon eingehend aus-gesprochen. Hinzufügen möchte ich noch, daß der Lehrer nicht bloß die Werke dem Schüler vorspielt, sondern auch analytisch und historisch diese bespricht, auf ihren Zusammenhang mit anderen Werken desselben Komponisten hinweist, kurzum das Kunsthistorische dabei erörtert. Absolut notwendig ist, daß der Lehrer akademische Bildung (philosophische oder philologische usw.) hat. Liszt sagte einmal: „Wer neben Marburg auch Shakespeare kennt, wird besser komponieren als der, welcher nur Marburg studiert hat.“ Analog diesem Ausspruch können wir sagen, daß wer Aischylos, Euripides, Sophokles, die römischen, französischen, italienischen Dichterheroen, Goethe, Schiller, Lessing, Plato, Herder, Kant, Schopenhauer usw. studiert hat, ganz anders Beethovens Sonaten Op. 106 und 111 auffassen wird als jener, der diese Dichter gar nicht kennt.

4. Es ist kein Unterschied zu machen zwischen Ausbildung und Meisterausbildung.

5. Die Schüler müssen sich, ehe sie in die pianistische Schule eintreten, damit ausweisen, daß sie ein Gymnasium besuchen oder besuchten. Es würde sich empfehlen, an Konservatorien Lehrkanzeln für deutsche, griechische, römische Literatur, wobei natürlich die großen poetischen Werke der anderen Nationen berücksichtigt werden, zu errichten und ebenso einen Kurs für Philosophie zu schaffen.

6. Die Schüler müssen verpflichtet werden, Harmonielehre, Kontrapunkt usw., Instrumentationslehre, Partiturlesen, Musikgeschichte zu lernen.

7. Im Konservatorium muß ein bedeutender Künstler angestellt werden, welcher die Schriften Wagners, Liszts, Berlioz’, Schumanns usw. eingehend bespricht. Einzelne Schriften dieser Meister müssen ganz gelesen werden.

8. Ein Spezialkurs ist zu schaffen, in welchem speziell über Liszts Werke vorgetragen wird und die Beziehungen seiner Werke zu Goethe, Schiller, Herder, Lenau, Hugo, Dante, Lamartine, Byron, Obermann usw. erklärt werden.

9. Uebrigens genügt Musikgeschichte nicht allein, vielmehr müssen Spezialvorträge über Bach, Beethoven usw. stattfinden.

10. Die Schüler müssen Kammermusik betreiben und außerdem vierhändig oder auf zwei Klavieren sämtliche orchestralen Werke von Bach bis zur jetzigen Zeit spielen.

11. Die Lehrer müssen im Konservatorium regelmäßig Konzertabende mit ernster, großer Musik geben.

August Stradal, Neue Musik-Zeitung, 41. Jg., 26. Februar 1920

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!