Vor 100 Jahren beschrieb in der Neuen Musik-Zeitung Autor Prof. H. Platzbecker ein Konzert, bei dem ein Orchester nach einem abgefilmten Dirigat spielte. Er fragt sich unter anderem: „Was hat die Staatskapelle bewogen, alle Pietät hintanzusetzen und dieses Filmkonzert zu veranstalten?“ und endet mahnend: „Niemals dürfen aber solche Vorführungen sensationslüsternen Laien zugänglich gemacht werden, wie im Dresdener Opernhause.“
In der Dresdener Staatsoper fand ein kurzes Sonntagvormittagskonzert statt, in welchem die Musiker drei Ouvertüren nach Weisungen einer Filmaufnahme Ernst von Schuchs spielten. In seiner geschmeidigen Gangart, in seiner vornehmen Haltung, in seiner bestimmten, einst so begeisterungsfreudigen und vielbewunderten Art der Stabführung erschien zwar die Gestalt auf der weißen Leinwand. Doch „seines Geistes ward kein Hauch verspürt“! Die Zuhörer sahen ihn, wie ehedem, von rückwärts, die Musiker dagegen in einem unteren, mit dem oberen korrespondierenden Bilde von vorn. Die „Freischütz“-Ouvertüre begann. So breit hat Schuch das Adagio nie genommen. Das überlangsame Zeitmaß war wohl nur ein Versehen des Kurbelmeisters. […] Was hat die Staatskapelle bewogen, alle Pietät hintanzusetzen und dieses Filmkonzert zu veranstalten? Man glaubte damit in erster Linie musikpädagogische Zwecke zu fördern. […] „An jedem beliebigen Platz der Welt, wo sich eine den Aufgaben gewachsene Kapelle befindet“, glaubt die Filmgesellschaft „Konzerte mit den Schattenbildern berühmter Dirigenten veranstalten zu können.“ Sie vergißt dabei nur eins, daß eine Kapelle und ihr Leiter zu einem organischen ganzen verwachsen sein müssen und daß das seelische Fluidum des lebendigen Führers erforderlich ist, um künstlerisch bedeutsame Wirkungen auszulösen. […] Möglich, daß sich im Schulsaale für Dirigentenanwärter trotzdem Erfolge erzielen lassen mit Filmvorführungen, bei denen die Auffassung und Ausdeutung wertvoller Orchesterwerke durch einzelne geniale Meister des Taktstocks gezeigt wird. […]. Niemals dürfen aber solche Vorführungen sensationslüsternen Laien zugänglich gemacht werden, wie im Dresdener Opernhause.
Prof. H. Platzbecker, Neue Musik-Zeitung, 41. Jg., 20. Mai 1920