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Unterdrückte Künstlernatur ausleben

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Zum Jahr der Senioren tut sich auf dem musikalischen Sektor einiges
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BAGS werden sie genannt, die Menschen der „Best Age Generation“. Gemeint sind jene jenseits der 60, die sich vom Beruf verabschiedet haben oder verabschieden mußten. Sie pumpen einen großen Batzen ihres Einkommens in die Wirtschaft, in Reisen und in allerlei Hobbies. Musik, aktiv und passiv erlebt, hat dabei einen erheblichen Anteil: in Volkshochschulangeboten, in Laienverbänden, singend und auf verschiedensten Instrumente – von Hackbrett, Flügelhorn, Blockflötenspielkreis bis zur hohen Kunst des Orchesterspiels und des Kammermusizierens. Das setzt wiederum mehr als nur die Liebe zu schönen Klängen voraus, nämlich technische Fertigkeiten und musikalisches Grundwissen. Glücklich, wer aus frühen Jahren davon noch etwas hinübergerettet hat und auffrischen kann. Aber auch Neueinsteigern muß dies nicht verschlossen bleiben, wenn zum Beispiel Eltern mit Kindern (wieder) anfangen, mithalten oder unter ihres gleichen, unter Erwachsenen mitspielen, mitsingen wollen. Dieser Gruppe öffnen sich unsere Musikschulen zunehmend. Siehaben das pädagogische Potential. Aber weil die erwachsenen Schüler anders behandelt sein wollen, gibt es inzwischen nicht nur adäquates Lehr- und Übungsmaterial, sondern auch die notwendigen Fortbildungsangebote für Musikpädagogen, um sich auf den Umgang mit lernenden Erwachsenen einzustellen. Und weil man in unserm Lande gewohnheitsmäßig alles gründlich und sorgsam vorausbedenkt, ging für die Betreuung dieser neuen Zielgruppe Musiklerninteressierter ein ebenso gründliches Pilotprojekt voraus. Auftraggeber dafür war der Verband deutscher Musikschulen, Diethard Wucher der Spiritus rector. Neben Instrumental- und Vokallehrern haben sich Didaktiker, Pädagogen, Psychologen, Soziologen mit dieser Thematik auseinandergesetzt und ihre Erkenntnisse zusammengetragen: Was sich bei Lehrern und erwachsenen Schülern anders als bei Kindern abspielt. Wie man mit Lernproblemen, Selbsteinschätzung und Selbstvertrauen umgeht. Musik selber machen – der aktuellste Beitrag zum Jahr der Senioren (siehe Buch-Tip am Ende!). Selbstzufriedenheit und Bestätigung, die im eigenen Beruf ausbleiben oder ausblieben, vermag eigenes Hobby zu ersetzen, ja sogar professionelle Züge annehmen, wenn neben der heimlichen Liebe zur holden Musica offensichtlich besondere musikalische Begabung durchschlägt. Wir kennen sie: den Versicherungskaufmann als begnadeten Oratoriumsänger, den frustrierten Grundschullehrer als routinierten Jazzmusiker, den Chorleiter von Concordia, der zum Broterwerb tagsüber in der Kreisstadt den Haushalt verwaltet. Was nun „Jugend musiziert“ recht und billig ist, bleibt auch den großen Amateuren nicht verwehrt. Universitätsstudenten messen in Utrecht regelmäßig im Wettbewerb ihre pianistische Künste – Profimusiker und Musikstudierende sind dabei ausgeschlossen. Mindestens 18 muß man oder auch 81 darf man sein, um am Grand Amateur Klavierwettbewerb teilnehmen zu dürfen, der schon seit zehn Jahren jeweils zu Beginn des Jahres im Sendesaal von France Musique zu Paris ausgetragen wird. Hochprofessionell sind Jury, selbstgewähltes Vortragsprogramm, dargebotene Leistungen. Die Kandidaten jedoch sind Amateure, die aus allen denkbaren Berufen antreten, Angestellte, Ärzte, Architekten und Diplomaten ebenso wie Hausfrauen, honorige Professoren oder Rentner. Sie reisen wahrhaft aus der ganzen Welt an. Freilich keine gewöhnlichen Amateure, schon gar nicht Dilettanten, sondern Menschen, in denen letztlich die unterdrückte Künstlernatur ihren Anspruch erhebt, die sich mit Selbstverständnis ohne gleichen nicht scheuen, vor Pianospezialisten wie Madame Rubinstein, Anne Queffelec, Idil Biret, Germaine Deveze und unter der Kritik europäischer Fach- und Tagesjournalisten (die nmz war dabei) die ganz große Klavierliteratur überzeugend zum Klingen zu bringen. Das künsterische Ergebnis und das Interesse an diesem Wettbewerb der Melomanen ist so zündend, daß erstmals „Les grand Amateurs de Piano“ zusätzlich von der Van Cliburn Foundation nach Texas und nach Japan verpflanzt wurden. Warum nur Klavier? Warum nur für Kinder und Berufsanfänger? „Grand amateurs“ jenseits des Jugendalters gibt es als Sänger, auf Streich-, Blas-, Zupf-, Schlag- und manch anderen Instrumenten. Wettbewerbe motivieren zur aktiven Teilnahme am kulturellen Leben, verhelfen zu mehr Kompetenz, zu sozialen Kontakten. Unsere Jugendministerin war enorm angetan, als sie vor kurzem in der Kölner Philharmonie die Resonanz und die Ergebnisse von „Jugend musiziert“ auszeichnete. Wenn sie dies in ihrer gleichzeitigen Rolle als Familien- und Seniorenministerin zu Ende denkt, dann müßte sie den Deutschen Musikrat mit dem weitergehenden Förderprojekt „Alle musizieren“ kreieren. Für alle Erwachsenen. Mit Sonderpreisen für Senioren. Musik selber machen. Musikalische Erwachsenenbildung an Musikschulen. Versuche, Initiativen und Ergebnisse; hrsg. von Diethard Wucher. ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg 1999.

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