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Vor 100 Jahren

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Die Musikersiedlung
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Auch in uns Musikern erwachte unter dem Druck der immer schwieriger werdenden Verhältnisse der Gedanke, das häßliche und trostlose jetzige Stadtleben mit seiner Unruhe, seinem schonungs- und mitleidlosen Existenzkampf, seiner Ungesundheit und Unnatürlichkeit aufzugeben und aufs Land zu ziehen. Doch neben viel äußeren Hemmungen, die sich der Ausführung des Siedlungsgedankens entgegenstellen, gibt es auch innere, die manchen abhalten, sich näher mit dem Problem zu befassen.

 In weitaus den meisten Fällen wird es nicht möglich sein, auf dem Land zu wohnen und tagtäglich zu musikalischer Berufsarbeit in die Stadt zu fahren, abgesehen von der Unbequemlichkeit, dem Zeitverlust, den Unkosten und schließlich auch der Unnatürlichkeit solcher Berufsteilung. Nein, wer recht siedeln will, der muß schon endgültig auf die Stadt verzichten und damit nicht nur auf das Böse und Ungesunde, sondern leider auch auf viel Schönes und Gutes. Doch das ließe sich ertragen. Nicht aber der Verzicht auf geistige Arbeit, wie ihn das Landleben mit seiner fast ausschließlichen körperlichen Arbeit bedingt. Meines Erachtens bleibt dem siedlungswilligen geistigen Arbeiter, der von Jugend auf mit dem Kopf zu schaffen gewöhnt ist, dem Gelehrten, Künstler, Musiker, Schriftsteller nur übrig, Mittel und Wege zu suchen, körperliche, d.h. landwirtschaftliche Gartenarbeit, welche die Lebensmittel und geistige Arbeit, welche die nötigen Geldmittel beschafft, zu vereinen.

Mein da und dort, wo ich davon sprach, begeistert aufgenommener Plan geht nun dahin: Gründung einer Siedlung, in welcher Musiker und Musikfreunde nach gesunder Tagesarbeit im Garten, Feld und Wald sich abends, zu einem kleinen Orchester und Chor vereint, künstlerischer Tätigkeit hingeben. An mehreren Abenden der Woche regelmäßig veranstaltete Proben werden bald aus tüchtigen, gebildeten Musikern und Musikerinnen, auch begabten Dilettanten bestehende Orchester und den von stimmbegabten, vom Blatt singenden Sängern und Sängerinnen, sowie etlichen Solisten gebildeten Chor befähigen, im Winter, wenn die landwirtschaftliche Tätigkeit ruht, große, weite Konzertreisen nach Art der prachtvollen Fahrten der Wandervögel zu unternehmen. Diese Kunstfahrten, möglichst zu Fuß ausgeführt, sollen uns die nötigen Geldmittel beschaffen, auf die wir Siedler glücklicherweise nicht so sehr angewiesen sind infolge des weitaus billigeren Lebens auf dem Land. Der Hauptzweck unserer Wanderung ist es, in den musikhungrigen kleinen Städten und nach Möglichkeit auf dem Lande selbst gute, beste Chor- und Orchestermusik darzubringen. Über die technische Durchführung (Werbetätigkeit, Beschaffung von Unterkommen, Verpflegung, Konzertraum durch vorauswandernde Siedlungsgenossen, Transport der Instrumente und Noten) wird mal später zu beraten sein. […]

Wenn wir für „unsere“ Siedlung ausschließlich Vegetarier suchen, so glauben wir eben, daß die rein vegetarische Lebensweise, verbunden mit lebensreformerischer Gesinnung […] Menschen eignet mit hohem Idealismus, ohne den es freilich nicht geht und der leider in der jetzigen trüben Zeit so spärlich zu finden ist. […]

Dr. Otto Mayr, Neue Musik-Zeitung, 41. Jg., 15. April 1920

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