Nichts spricht deutlicher für den überraschenden Aufschwung, den das deutsche Theater im Lauf der letzten 20–30 Jahre genommen hat, als die wachsende Erkenntnis von der Bedeutung einer zielbewußt tätigen Opernregie. War es in dieser Hinsicht früher auf den Bühnen recht schlecht bestellt, so ist hier, teilweise unter den Einflüssen Bayreuths, gehörig Wandel geschaffen worden. Vor allem die mit Unrecht vielgeschmähte „Provinz“ hat hier bahnbrechend gewirkt. […]
Die Erneuerung der Opernregie ging mit Recht vom Schauspiel aus. All das, was man im Schauspiel gelernt hatte an Konzentration und Eindringlichkeit der Geste und Bewegung, an Durchbildung der mimischen Ausdrucksfähigkeiten, kurz an modernem darstellerischen Gestaltungsvermögen, ließ sich ohne Schwierigkeit auch auf die Oper anwenden. Man verlangt heute vom Opernsänger viel mehr darstellerisches Können, als früher, wo es bloß galt, die Arien möglichst schön zu singen. Und vor allem wurde der ganze neue szenische Apparat, das neue fein differenzierte Beleuchtungssystem Fortunys, die Kunst moderner Raum- und Szenengestaltung, sowie die Neuerung des Lufthorizonts mit seinen Lichtwundern auch auf die Oper angewandt. Man konnte hier in Einzelheiten sogar noch weiter gehen als im Schauspiel. Der Versuch, dem Zuschauer eine Tonart durch Farbe sinnfällig zu machen, hat sich teilweise erfolgreich bewährt. […]
Der moderne Opernregisseur ist nicht minder Interpret des Komponisten als der Kapellmeister, auch er muß Stil und Eigenart eines musikalischen Werkes geistig voll erfaßt haben, um den musikalischen Ausdruck ins Szenische umsetzen zu können. […] Die gefährliche Neigung, eine Oper unbeachtet ihrer musikalischen Eigenart der Zeitmode gemäß „expressionistisch“ zu inszenieren, rächt sich hier noch in weit höherem Grade als im Schauspiel. […]
Oskar Fritz Schuh, Neue Musik-Zeitung, 44. Jg., 3. Mai 1923