In den neugeordneten Räumen altdeutscher Meister in der Badischen Kunsthalle in Karlsruhe fanden Vorführungen von Musik aus dem Zeitalter der Gotik statt. Der Grundgedanke der Veranstaltung war der, Werke der bildenden Künste in dem geistig-künstlerischen Zusammenhang ihrer Zeit wirken zu lassen. Drei Abende vermittelten Gaben der musica ecclesiastica, der musica composita und musica vulgaris mit eingelegten Lesungen von literarischen Werken der zugehörigen Sphären. Ein einleitender Vortrag von Prof. Dr. Gurlitt (Freiburg) über „Musik und Musikanschauung im Zeitalter der Gotik“ gab die Grundlagen für das Verständnis.
Die musica ecclesiastica, der „gregorianische Choral“, wurde ausschließlich vom Klerus gepflegt und hatte rein sakrale, gottesdienstliche Bedeutung. Der Form nach herrscht reine Einstimmigkeit, wechselnd von Vorsänger und Chor vorgetragen. Die musica composita will an Stelle der laus deo die delectatio hominum; sie ist die eigentliche Kunstmusik, die das gebildete Laienelement übernimmt. In ihrem Bereich tritt die Mehrstimmigkeit auf, während die Instrumente (wenigstens in der Frühzeit) noch ausgeschlossen bleiben. Die musica vulgaris schließlich „soll“ das angeborene Unglück der Menschen mildern. Hier haben die Spielleute das Wort mit ihren Fideln, Leiern und Pfeifen, mit ihren Tänzen und Liebesliedern.
Die Aufführungen wurden bestritten von Mitgliedern des musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Freiburg (Prof. Dr. Gurlitt), von dem auch das gesamte Notenmaterial und dessen Bearbeitung stammte, und einem kleinen Kammerchor Karlsruher Musikfreunde unter Leitung von Dr. Curjel. Der erste Vorsänger der Benediktinerabtei Maria Laach führte die gregorianischen Choralgesänge an. Die in allen Teilen sorgfältig vorbereiteten und wohlgelungenen Aufführungen gaben starke, lebendige Eindrücke der Kunstübung einer großen Epoche deutschen Geisteslebens. Die Veranstaltung hat als erster umfassender Versuch einer Erschließung der Musik der Gotik zu gelten.
Dr. H.E., Neue Musik-Zeitung, 43. Jg., 1. Dezember 1922