[…] So sehr Berlioz die Emanzipation der Musik von klerikaler Dogmatik und klassischer Strenge zur Individualisierung, zur rein musikalisch begründeten Funktionalität einer weit über Beethoven hinaus gesteigerten Ausdrucksskala vorantrieb, so sehr hat er aber auch den Star- und Geniekult des aufkommenden Bürgertums mit inszeniert, …
… hat der bürgerlichen Gesellschaft zur pseudoliberalen Selbstdarstellung verholfen und dazu auch die entsprechend monumentalen Werke, oft sehr kurzfristig, abgeliefert, so einerseits das Requiem, ein genialer Vorgriff auf den Raumklang der Avantgarde von heute, andererseits die „Symphonie funèbre et triomphale“, ein streckenweise recht banales und langatmiges Stück Bombastofonie in Blech zum Helden- und Totenkult der herrschenden Klasse.
Warum ist diese schillernde Persönlichkeit heute wieder aktuell? Genauer: Welches Bedürfnis hat wohl zur neuerlichen Aktualität geführt? Wohl kaum die hundertste Wiederkehr seines Todestages im Jahre 1969 allein […]. Es ist kein Zufall, dass die gigantischen, in Aufwand und Ausdauer weit ausholenden Werke wie die dramatische Sinfonie „Romeo et Juliette“, das Requiem, die späte Oper „Les Troyens“, die Szenenfolge „La Damnation de Faust“ und das Oratorium „L’Enfance du Christ“ gerade jetzt neu entdeckt werden; das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer kulturellen Aureole für die wirtschaftsmächtige Selbstzufriedenheit hat sich gegenüber dem vergangenen Jahrhundert nur prozedural geändert: An die Stelle einiger weniger Mammutkonzerte zu nationalen Feiertagen tritt im Zeitalter der Tonträgermedien die Schallplattenkassette, der Bürger genießt den Fortschritt, das immaterielle Kapital des kulturellen Erbes nun auch als materiellen Besitz nach Hause tragen und ständig reproduzieren zu können. Denn es ist weitgehend noch der gleiche Bürger eines autoritären Besitzverteidigungsstaates, dem das Pathos der vergangenen Hochblüte über die offensichtliche Fragwürdigkeit seines gesellschaftlichen Selbstverständnisses wie auch die der Gesellschaft selber hinweghelfen soll. Berlioz, einst Künstler wenn schon nicht unbedingt des gesellschaftlichen, so doch des musikalischen Fortschritts, dient dazu, mit der Abendröte des Kapitalismus noch ein Geschäft zu machen; das hätte er sich, bei aller eigenen Geschäftstüchtigkeit, wohl nicht träumen lassen. […]
Hartmut Lück, Neue Musikzeitung, XXI. Jg., Nr. 2, April/Mai 1972