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Vor 50 Jahren: Fred K. Prieberg, Musikerinnen sind nicht erwünscht
Vor 50 Jahren: Fred K. Prieberg, Musikerinnen sind nicht erwünscht
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Vor 50 Jahren: Musikerinnen sind nicht erwünscht

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Ist Gleichberechtigung bei deutschen Orchestern kleingeschrieben?
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Daß es mit dem Musikleben in der Bundesrepublik nicht gerade zum besten steht, ist eine Binsenwahrheit, und nicht alle Mängel sind dem Staat oder der Kulturverwaltung zur Last zu legen. Die Verantwortung für eine skandalöse Tatsache jedenfalls läßt sich bei den Musikern selber lokalisieren: In den Kulturorchestern der Bundesrepublik sind Musikerinnen unerwünscht.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Eine Harfenistin und eine Geigerin am letzten Pult lassen sich als bequemes Alibi vorzeigen. 1966 waren ganze 4,3 Prozent der Orchestermusiker weiblichen Geschlechts. Seither hat der Anteil der Frauen nicht zugenommen. Zugenommen hat lediglich die Anzahl der Orchester, die keine Frauen wollen. Verstärkt haben sich auch die Versuche, diesen Sachverhalt zu vertuschen oder zu rechtfertigen, und wenn es nicht anders ging, mußten faustdicke Lügen herhalten. […]

Hinter der Diskriminierung der Musikerinnen stehen ganz handfeste Interessen. Solange die Orchester Frauen nicht einstellen und sie demzufolge offene Stellen haben, können sie argumentieren, daß sich genügend Nachwuchs erst dann einfinden werde, wenn die Musikergehälter entsprechend attraktiver geworden sind. […] Aber es gibt noch weitere Motive für den Frauenboykott. Nicht an letzter Stelle steht die Angst der Musiker vor fairem Wettbewerb, vor der weiblichen Konkurrenz. Ist es schon ärgerlich genug, daß ein Musiker besser ist als der andere, so wird es unerträglich, wenn der bessere Musiker eine Frau wäre. Psychologen deuten die selbstherrliche Arroganz der Herren als Symptom eines Minderwertigkeitskomplexes, als Relikt der autoritären Tradition des Männerbundes zwischen Kommiß und Handwerkerzunft. […]

Der Widerstand gegen Musikerinnen geht oftmals von den alten Herren aus, die als Orchestervorstände, Konzertmeister oder Gelegenheitssolisten eine gewisse Autorität mitbringen. Sie stecken voller Ressentiments, die offenbar anerzogen sind. Wie weit die Ehefrauen der Musiker gegen die zumeist jüngeren Damen im Orchester Stimmung machen, ist einer Untersuchung wert. […]

Alle diese Motive und Kräfte wirken zusammen bei dem Boykott der Orchestermusikerinnen, an dessen Spitze sich das Berliner Philharmonische Orchester stellt, „einer alten Tradition folgend“, wie Intendant Dr. Wolfgang Stresemann versicherte, und noch das letzte Provinzorchester kann sich auf dieses Vorbild berufen. Tradition ist nicht nur Schlamperei wie Stresemanns Kollege Gustav Mahler einmal sagte. An einem bestimmten Punkt wird Tradition kriminell.

Fred K. Prieberg, Neue Musikzeitung, XVIII. Jg., 1969, Nr. 6 (Dez./Jan.)

 

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