Witten und seine Tage für neue Kammermusik sind weiter auf dem Weg nach vorn. Erstmals hatte ihr künstlerischer Leiter Dr. Wilfried Brennecke fünf Konzerte für ein Wochenende angesetzt. Alle waren jedesmal von über dreihundert Personen besucht. Dieser äußere, vor vier Jahren nach gar nicht voraussehbare Erfolg entspringt vielleicht sogar der Konsequenz, mit der hier Programme gemacht werden. […]
Für gegen den Strich gebürstete Musik sorgte das Ensemble Musica Negativa, das seit drei Jahren besteht, unter seinem Dirigenten Rainer Riehn. Hier wird enorm detailbewußt und differenziert gearbeitet, wie in den „frottages“ von Hans-Joachim Hespos (34) oder dem enervierend dahinschleichenden „Opus Ghimel“ von Giuseppe Sinopoli (26) nachzuprüfen war. Nicolaus A. Huber (33) kann man widersprechen, wenn er zu seinem „Versuch über Sprache“ einige Musiker über Mikrophone nach dem Muster von Stockhausens „Kurzwellen“ reagieren läßt. Die Komposition selbst verwässerte. Die Provokation, auch des Publikums, gelang dagegen so perfekt, daß die Vorführung schloß, indem ein Zuhörer den elektrischen Hauptstecker lahmlegte. Am meisten Erstaunen erregte indes die Uraufführung von Dieter Schnebels „Fragment“ von 1955 auf einen Rilke-Text, der einmal mit Stimme, einmal mit solistischen Bläsern vorgestellt wurde. Erstaunlich war das knapp eineinhalbminütige Opus, das als Arbeitsdokument gelten kann, allein deshalb, weil es zeigt, in welchem Maß neben Xenakis, Kagel und Ligeti auch Schnebel sehr frühzeitig die Webern-Nachfolge vermied und einen persönlichen Weg in Richtung auf seine „visible music“ und auf einen neuen Espressivo-Stil einschlug.
Hanspeter Krellmann, Neue Musikzeitung, XXI. Jg., Nr. 4, August/September 1972