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Vor 50 Jahren – nmz 1972/12
Vor 50 Jahren – nmz 1972/12
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Vor 50 Jahren – nmz 1972/12

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Wozu braucht die Gesellschaft Musik?
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[…] Wenn Musik ein lebensnotwendiges Element jeder Gesellschaft ist, und wenn rhythmisches Pulsieren des affektiven Bereiches jede Gestalt von gesellschaftlichem Bewußtsein konstituiert, dann wird moderne Städteplanung auch die Strukturen eines möglichen Klangraumes der von ihr geprägten Wohn- und Lebensbereiche entwerfen müssen; sonst läuft sie Gefahr, die Population dieser künstlichen Welt von einem Lebenselement abzuschneiden, das für die Gattung „Mensch“ ebenso existenznotwendig ist wie Luft und Wasser. […]

Die überkommenen Formen städtischer Musikpflege dienen in erster Linie der großen Tradition der bürgerlichen Musikkultur. Eine verantwortliche Städteplanung wird sich auf diesem Feld von den reaktionären ebenso, wie von den progressiven Ideologien distanzieren müssen. […] Eine Zerstörung der bürgerlichen Musiktradition würde deshalb kulturgeschichtlich ähnliche Folgen haben, wie die Zerbombung der Städte im zweiten Weltkrieg. […] Die höchsten und unverzichtbaren Werke von Musik, Literatur und Kunst haben sich immer an kleine Minderheiten gerichtet. Es ist aber ein grobes Mißverständnis einer in ihrem eigenen Bereich durchaus legitimen soziologischen Kategorie, wenn solche Kunst deshalb als „elitär“ diffamiert wird – steht es doch dank des Angebots der Rundfunk- und Fernsehprogramme, der Schallplattenindustrie und der städtischen Bildungseinrichtungen jedermann frei, sich der „Elite“ des Kunstverstandes zuzugesellen. Die Macht gesellschaftlicher Vorurteile hat aber die Pflege der hohen Kunstmusik in eine Situation gedrängt, in der sie eher unter der Überschrift „Minderheitenschutz“ diskutiert werden sollte.

Neue und sich rasch ausdehnende Aufgaben sind für die städtische Musikpflege auf dem Feld der Musikpädagogik erwachsen. […] Langfristig ist mit einer Emigration der Musikpädagogik aus der Unterrichtsschule zu rechnen. Das Bedürfnis nach städtischen Musikschulen, nach Musikerziehung im Kindergarten, nach Musikkursen im Rahmen der Erwachsenenbildung und nach bisher noch nicht institutionalisierten Formen moderner Musikpädagogik wird zunehmen. […]

Die gesellschaftliche Funktion der Musik wird heute vorwiegend unter der Überschrift „Freizeitgestaltung“ erörtert. Daß Musik in der Freizeit ihren Platz hat, ist eine Trivialität; die Probleme, um die es geht, werden erst sichtbar, wenn man erkennt, dass die Mehrzahl der Bürger unserer Gesellschaft gerade in ihrer sogenannten „Freizeit“ an ihre Unfreiheit ausgeliefert sind. Die hypnotische Wirkung von Musiksurrogaten, die für kritik- und willenlosen Massenkonsum präpariert sind, lähmt jene Kräfte, die gebraucht würden, um den privaten als persönlichen Bereich, d.h. als einen Bereich der Freiheit zu gestalten. […]

Georg Picht, Neue Musikzeitung, XXI. Jg., Nr. 6, Dezember 1972/Januar 1973

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