[…] Nicht das geringste Verdienst der Wittener Tage und ihres Planers Brennecke ist die Bekanntschaft mit Komponisten aus dem Ostblock, dessen musikalische Landkarte hierzulande manchen weißen Fleck aufweist. Die Stadt vergab einen Kompositionsauftrag an Tilo Medek, 33 Jahre alt, in Ostberlin lebend, der WDR beauftragte den Prager Marek Kopelent mit einer Komposition. Die Werke kamen nach Witten, die Autoren durften nicht.
Beide Stücke spiegeln, mehr oder weniger verschlüsselt, die prekäre Situation der individualistischen Künstler in ihren Ländern. Medeks „Stadtpfeifer“ “, gespielt vom Warschauer Ensemble Musikalische Werkstatt (Leiter: Zygmunt Krauze), zitiert und zerstört in seinem Verlauf sentimentale Musik von gestern, verfällt gelegentlich auch der banalen Virtuosität, die im Stück verspottet wird, und der Bezugspunkt einer „einstigen intakten Stadtpfeiferzunft“ ist wahrscheinlich nur ein Euphemismus für eine offizielle, offiziell intakte Musiklehre und Musik-Leere, die heute in manchen Gegenden herrscht.
Kopelents „Schweißtuch der Veronika“, eine „Sonata für elf Streicher“, gespielt von der Camerata Bern, die sich in der letzten Zeit einen guten Namen geschaffen hat, läßt dicht gewobene Clusterstrukturen immer wieder in tonale Akkorde münden, die offensichtlich programmatisch gemeint sind: Erinnerung an Verlorenes, Sehnsucht, schüchterner Ausblick? Kopelents naiver Wunsch, das Publikum möge dem „mächtigen“ C-Dur-Schlußakkord durch Aufstehen „im ernstesten Sinne Ehre erweisen“, wäre vom Wittener Publikum wohl kaum als Jux aufgefaßt worden, wüßte es um die Pressionen, denen er ausgesetzt ist und diesen Akt der Befreiung entgegenstellen wollte. Solch introvertierte, meditative oder spekulative Musik, die sich nicht auf Anhieb erschließt, wurde hier weniger geschätzt, so auch die […] „Präludien und Fuge“ Witold Lutoslawskis. […]
Dietmar Polaczek, Neue Musikzeitung, XXII. Jg., Nr. 3, Juni/Juli 1973