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Zielgruppen ansteuern, aber nicht um jeden Preis

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Klassische Musik populär machen, ohne populistisch zu sein · Zur Arbeit des Musikchefs im Bayerischen Rundfunk
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Seit 20 Jahren arbeitet er beim Bayerischen Rundfunk, seit rund zwei Jahren als Leiter der Hauptabteilung Musik im Hörfunk. Damit gibt Axel Linstädt bei den Programmen Bayern 1, Bayern 2 Radio, Bayern 3 und Bayern 4 Klassik jeweils den musikalischen Grundton vor. Ein gutes Jahr nach seinem Wechsel nach München setzte der Musikwissenschaftler und Kunsthistoriker deutlich hörbare Spuren. Das anspruchsvolle E-Musik-Programm Bayern 4 Klassik, von manchem Kritiker als allzu wuchtig oder lieblos erlebt, sollte „persönlicher und aktueller“ werden, durch einfühlsamere Moderationen, behutsam erweiterte Ansagen und neue Sendungen. Die Programmreform vom Januar 1998 stieß auf ein geteiltes Echo. Während Stammhörer um die Exklusivität „ihres“ Senders fürchteten, ziehen Formate wie „CD aktuell“ und die tägliche Jazzstunde neue, jüngere Hörer ins Programm. Oft klingt abends noch Klaviermusik aus Axel Linstädts Büro im Münchner Funkhaus, einem funktionalen Bau aus den 70er Jahren gegenüber dem Hauptbahnhof. Keine Radiosendung, sondern Linstädt live. Ein Konzertflügel dominiert sein Büro im dritten Stock. Das Instrument sei ein Erbstück seines Vorgängers, ein bißchen kleiner als der Steinway, den er zu Hause habe, in erster Linie aber nützlich, bilanziert Linstädt: „Man kann Dinge ausprobieren, zum Beispiel beim Entwickeln von Signets, von Erkennungsmelodien oder ähnlichem.“ Er experimentiere gerne, sagt Linstädt. Klassische Musik ist schwieriger zu vermitteln als beispielsweise Rock und Pop, denn es gibt weniger Interessenten, deren Geschmack aber wiederum breit gefächert sei. Als Verantwortlicher von Bayern 4 Klassik muß Linstädt den Spagat schaffen zwischen dem fachlich versierten Spezialpublikum und den Hörern, die klassische Musik einfach nur genießen wollen. „Allen Menschen recht getan ist eine Kunst, die niemand kann“, weiß Linstädt, versucht es aber trotzdem: „Wir steuern zu unterschiedlichen Tageszeiten unterschiedliche Zielgruppen an, so daß zu einer bestimmten Zeit jeder das bekommt, was er sucht, ob das jetzt eine große Sinfonie oder Neue Musik ist, Jazz oder Oper.“ Dafür mußte sich Linstädt den Vorwurf gefallen lassen, Bayern 4 Klassik werde zu populär, populistisch gar, und nähere sich dem Programmschema privater Konkurrenten wie „Klassik-Radio“ an, das mit konzertanten Highlights und sogenannter Kuschelklassik erfolgreich ist. Aber das weist er energisch zurück: „Bei uns gibt es keine Klassik light wie die drei Tenöre, die ihr Repertoire nur nach kommerziellen Gesichtspunkten zusammenstellen, und auch keine Häppchen. Wir spielen – von begründeten Ausnahmen abgesehen – nur komplette Stücke.“ Die Hörerzahlen bestätigen die Exklusivität des Programms. Etwa 300.000 Menschen hören täglich Bayern 4 Klassik, die meisten sind zwischen 40 und 69 Jahre alt und überdurchschnittlich gebildet. Wie sich die Zahlen seit der Programmreform im Januar 1998 entwickelten, ist noch unklar, denn die letzte Media-Analyse, die als aussagekräftigster Gradmesser in der Marktforschung gilt, bezieht sich auf den Zeitraum von Herbst 1997 bis Frühjahr 1998. Danach hat Bayern 4 Klassik einen Höreranteil von 3 Prozent – ein Prozent weniger als in der Erhebung für das Gesamtjahr 1997, aber genausoviel wie in den Monaten zuvor. Linstädt führt die vorübergehende Abweichung auf einen strategischen Fehler zurück: Die Programmumstellung war damals nicht mit einer entsprechenden Marketingkampagne begleitet worden. Wer „seine“ Sendung nicht mehr auf dem gewohnten Platz wiederfand, schaltete ab oder um. Ärgerlich, sagt Linstädt heute, aber er sieht sich dennoch auf dem richtigen Weg. Spürt er nicht den Druck der Quote? Auch hier gibt Linstädt sich gelassen. Der Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erlaube es ihm, eigene Akzente zu setzen und nicht den vermeintlichen Trends oder Charts hinterherlaufen zu müssen. Und wenn er Hörer an die Privatsender oder an das Fernsehen verliere, „dann kommen andererseits auch neue Hörer hinzu“, wie Linstädt betont. Mit Spezialsendungen zu Neuer Musik, in denen Bayern 4 Klassik unter anderem sämtliche Konzerte der Reihe musica viva überträgt, oder mit den täglichen Jazzsendungen werden Hörergruppen bedient, die bei den „Privaten“ leer ausgehen. Um noch mehr Radiobesitzer für Bayern 4 Klassik zu erobern, läuft derzeit eine Werbekampagne in den Magazinen der Süddeutschen und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In drei Motiven stehen jeweils ein älteres Paar, ein Mann mittleren Alters und ein junges Mädchen vom Typ Vanessa Mae entrückt neben ihrem Radio, lauschen laut Werbetext dem Programm von Bayern 4 und wähnen sich im Herkulessaal der Münchner Residenz, in der Carnegie-Hall oder in der Scala. „Na klar hätten wir die gerne alle als Hörer“, sagt Linstädt und gibt sich kämpferisch, „aber nicht um jeden Preis.“ Über das Gesicht von Bayern 4 Klassik will der Musikchef allerdings nicht alleine entscheiden. In regelmäßigen „Stationmeetings“ – Gesprächsrunden, zu denen alle am Programm Beteiligten eingeladen werden, um sich auch über die internen Redaktionskonferenzen hinaus zu verständigen – sind Vorschläge jederzeit willkommen. Im traditionell hierarchisch strukturierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk steht er damit für eine Generation, die auf verstärkte Kommunikation setzt. Seit 1979 arbeitet Linstädt beim Bayerischen Rundfunk, von 1989 bis 1996 als Musikchef im Studio Franken, und stets sucht er ganz bewußt Austausch und Anregung: „Das Programm darf nicht erstarren, es muß sich weiterentwickeln. Die Kollegen sind stets auch Hörer, und wir wollen offen für neue Ideen sein.“ Sich selbst sieht er dabei als eine Art „Katalysator“, als jemand, der mithilft, Ideen zu entwickeln und umzusetzen, dabei aber lieber im Hintergrund agiert. Die Bühne, auf der er jahrelang stand, vermisse er „überhaupt nicht“. Als Rockmusiker hatte der heutige Klassikchef in den 60er Jahren Furore gemacht, mit seiner Gruppe „Improved Sound Limited“ 1972 sogar ein Musical für das Schauspielhaus seiner Heimatstadt Nürnberg produziert. Außerdem war er als Komponist von Bühnen-, TV- und Filmmusik erfolgreich, so schrieb er etwa die Musik für Wim Wenders’ Film „Im Lauf der Zeit“, der in Cannes den Preis der Internationalen Filmkritik erhielt, und für den Film „Das Brot des Bäckers“, der mit dem Bundesfilmpreis und dem Ernst-Lubitsch-Preis ausgezeichnet wurde. Aber darüber spricht Linstädt nicht so gern: „To everything there is a season, heute bin ich hier.“ Seine jetzige Tätigkeit erfülle ihn, sagt er und lehnt sich in seinem schwarzen Ledersessel zurück. Täglich ewa zehn Stunden sei er im Funkhaus, darüber hinaus sei die kontinuierliche Programmbeobachtung selbstverständlich. Zum Abschalten bleibt da wenig Zeit. Aber wenn es geht, dann wandert er gerne mit Familie und Freunden. Und auch der Flügel in seinem Büro erfüllt dann einen weiteren Zweck: „Abends ein wenig improvisieren, das gehört zur Entspannung dazu. Und es beflügelt.“

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