Hauptbild
Affektreigen auf dem Campingplatz: Elisabeth Starzinger und Julia Gibele im Berliner „Orlando“. Foto: Monika Rittershaus
Affektreigen auf dem Campingplatz: Elisabeth Starzinger und Julia Gibele im Berliner „Orlando“. Foto: Monika Rittershaus
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Also kifft Zarathustra: Händels „Orlando“ an der Komischen Oper Berlin

Publikationsdatum
Body

„Wer liebt, wird irre“, das ist die Botschaft von Händels Opera Seria „Orlando“ aus dem Jahre 1733, die der skandinavische Regiestar Alexander Mørk-Eidem bei seinem Debüt als Opernregisseur an der Komischen Oper Berlin drastisch hervorkehrt.

Wo sonst Sängerinnen bemüht sind, Hosenrollen möglichst männlich zu verkörpern, setzt er auf das Gegenteil: die Darstellerinnen der Helden bleiben betont weiblich, sind sogar noch aufreizender gestylt als ihre angebeteten Gönnerinnen (Kostüme: Maria Gyllenhoff) und lieben dabei ihre Geschlechtsgenossinnen körperlich um so leidenschaftlicher. Im affektvollen Reigen gibt es nur einen wirklichen Mann, den Gott Zarathustra, der in dieser Lesart, als Hippiekomödie der vergangenen Sechzigerjahre, ein langhaariger Macho ist. Zarathustra ersinnt mit Hilfe von Joints das Geschehen rund um den irrsinnigen Ritter Orlando, – Ariosts „rasender Roland“ als ein Drogentraum.

In Erlend Birkelands Ausstattung setzt der Schauspielregisseur auf erprobt bühnenwirksame Elemente. So ist das Orchester von einem Showsteg umgeben, und anfangs ist die offene Bühne durch eine runde Naturholzwand verschlossen, eine Raumlösung aus Kriegenburgs Münchner Inszenierung von Borcherts „Draußen vor der Tür“. Dahinter verbirgt sich auf dem kreisenden Bühnenrund ein veritabler, nordischer Wald, eine Reminiszenz an Max Reinhardts Berliner „Sommernachtstraum“-Inszenierung. Hier wird sie im ersten Akt obendrein bestückt durch Campingbus und Campingzelt. Später wird der Wald durch herabstürzende Fliegenpilze als Ort des Furors intensiviert.

Wenn Orlando ob seiner Liebe in den Wahnsinn getrieben wird, füllt sich dieser Wald durch einen Chiasmus der Sichtachsen: weitere, umgekehrte Nadelbäume senken sich aus dem Schnürboden herab. Mittels Cyberspace-Brillen erleben die Protagonisten die Imagination ihrer Wunsch- und Angstvorstellungen, und die Zuschauer, in Form von Großprojektionen, mit ihnen. Nach der Pause der dreistündigen Aufführung verdichtet sich der Wahnsinn. Das liebende Paar Angelica (Brigitte Geller) und Medoro (Elisabeth Starzinger) ritzt seine Namen nicht in Baumstämme, sondern schreibt sie mit Lippenstift auf die (toten) Bretter der Holzwand. Die Schäferin Dorinda (Julia Giebel) entpuppt sich bei ihrer Arie als Disco-Tänzerin im Rotlicht-Milieu, und der Furor ergreift sogar die Steuerung der Untertitel, nochmals jene, die vor der Pause richtig waren und nun fehl am Platze sind. (Glücklicherweise aber ist die Textverständlichkeit der Solisten so hoch, dass dieses Beiwerk sich als entbehrlich erweist.)

Erst im Schlussakt löst sich die Optik der Rückwand des Orchesters, als eine langgestreckte Psychiaterbank, ein: bei Orlandos Selbstmordversuch reißt die Musik ab (wie in der Inszenierung des „Don Giovanni“ an diesem Haus) und wird dann als musiktherapeutisches Streichertrio auf jener Bank fortgesetzt; was Orlando in Werner Hintzes Deutscher Textfassung als „süßes Vergessen“ besingt, das ist die Amnesie seiner Wahnvorstellungen. Echter Theaterzauber setzt letztmals mit der Arie von Zarathustra (Wolf Matthias Friedrich) ein, komisch überhöht durch Zarathustras femininen Assistenten (Bernd Stempel), der selbst die Windmaschine dreht und die Tissues, zum Trocknen von Tränen der Psychoanalyse-Patienten, über die Nadelbäume wehen lässt. Das „göttliche Wasser“, das Zarathustra ein Adler apportieren soll, holt sein Famulus (der vordem stumme Schauspieler vom Deutschen Theater darf sich nun auch lautstark artikulieren) im Foyer: eine Flaschenbatterie im Sechserpack.

Das Orchester der Komischen Oper, angereichert um solistische historische Instrumente, wie Theorbe und Violette marine, ist Mittelpunkt einer Sternstunde: Dirigent Alessandro De Marchi entlockt Händels Partitur ungeahnten Farbenreichtum und sorgt für echte, tiefe Gefühle. Die Sängerdarsteller, allen voran die hinreißende chilenische Mezzosopranistin Mariselle Martinez in der Titelpartie, überzeugen liebend, hassend, mordend und vor allem singend.

So gab es bereits in der Pause lautstarke Begeisterung. Am Ende mischten sich in die Ovationen des Publikums auch Missfallensäußerungen für das Regieteam. Ein ungewöhnlicher, aber hoch artifizieller Theaterspaß, quasi ein Musical aus dem 18. Jahrhundert.

Weitere Aufführungen: 7., 13., 18., 27. März, 2., 18. April, 16. Juli 2010
 

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!