Hauptbild
Foto: Theater Bonn
Foto: Theater Bonn
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Animalische Fährten: Schrekers „Der ferne Klang“ überzeugt in Bonn als Totaltheater

Publikationsdatum
Body

Dirigent Will Humburg kehrt mit dem bestens disponierten Beethoven Orchester Bonn alles Unkonventionelle an der 1912 in Frankfurt uraufgeführten Oper hervor, arbeitet die schreienden Einzelmomente in Schrekers Mischklang solistisch heraus, stellt permanent die Modernität dieser Partitur unter Beweis und rückt sie doch stets in einen traditionell spätromantischen Zusammenhang und zeigt so die künstlerische Herkunft und musikdramatische Verwandtschaft des von Paul Bekker als „einzigen Nachfolger Richard Wagners“ deklarierten Komponisten auf – auch mit der äußeren Gewichtigkeit zweier großer Pausen.

Zwischen japanisch bespannten, mit animalischen Tierfährten bedruckten, gleitenden Wänden (eine vom Bühnenbildner Martin Kukulies gesuchte Nähe zu Puccinis „Butterfly“?) findet der Abschied des Liebespaares statt, – und im dritten Akt auch dessen Wiederfinden. Der Komponist Fritz zieht in die Welt und seine junge Grete will auf ihn warten, bis er als erfolgreicher Künstler zurückkehrt. Aber dann bricht jene Gesellschaft, die zuvor bereits schattenhaft im Hintergrund zu sehen war, ein in die filigrane Welt von Gretes Zuhause. Der betrunkene Vater, der Grete soeben an den Wirt verspielt hat, fällt beim Bekenntnis seiner Tochter, bereits einem Anderen verlobt zu sein, leblos über den belebten Karnickelstall.

Grete aber, die von der Männerrunde mit weißem Tischtuch, Lichterkette und Stammtischstander als Krone zu einer Tinnef-Madonna dekoriert wurde, schaukelt sich selbst in eine andere Existenz. Eine Existenz von gefährlicher Märchenhaftigkeit: auf einer zirkulierenden Waldlichtung umgeben Grete männliche Fabelwesen. Sie sind eine Antizipation von Gretes im zweiten Akt erzähltem Traum im Traum von kindhaften Greisen und greisenhaften Kindern. Deren Spiel mit Grete im einsamen Wald manifestiert sich als mythisch kaum verbrämte Ausdrucksform von weiblicher Erotik und Orgasmus und schlägt den Bogen zur kollektiven Libido der Frauen im Elysium, der jubelnden Emphase des Gesanges „mit Kobolden schlaf’ ich im Busch“ im dritten Akt der „Gezeichneten“. Folgerichtig senkt sich noch vor der Pause jene große Muschelschalenhälfte, die das Bühnenzentrum des zweiten Aktes bilden wird, hinter Grete herab.

In Bonn hört der Zuschauer im Wald auch den Zug mit dem abreisenden Fritz vorbeifahren, den Grete noch erreichen wollte, aber offenbar verpasst hat: eine akustische Zutat, vom Komponisten vorgeschrieben, aber wohl nie zuvor (zumindest nie so deutlich hörbar) akustisch realisiert. Nicht verzichtet wird auch auf die zahlreichen textlichen Überlagerungen durch Gesprächsfetzen und gesprochene Kommentare, welche die Singstimmen der Solisten, die Mischklänge dreier Bühnenorchester und die auf der Bühne, wie auch im  Rücken der Zuschauer und im Foyer des Hochparterres singenden (Fern-)Chöre überlagern. Diese komponierten Störfaktoren erklingen hier – zumindest seit Jahrzehnten – erstmals.

Und siehe da: Schrekers Klang-Collage obsiegt über alle zuvor erfolgten, gut gemeinten Bearbeitungen. Der Total-Rundumklang und die multiplen fernen Klangquellen, auch jene, die entbehrlich schienen, sie gehören originär und immanent zur Spezifik dieser Oper (und, noch gesteigert, zu jener der nachfolgenden Opernpartitur „Das Spielwerk und die Prinzessin“, – die von der Kieler Aufführung existierende CD ist allerdings extrem weit davon entfernt). Plötzlich sind auch alle gesprochenen Einwürfe und Halbsätze der Protagonisten, gipfelnd in Gretes finalen Rufen, „Fritz! – Was ist dir? Fritz! Fritz!“ durchaus überzeugend.

Regisseur Klaus Weise gelingt seine zweite Schreker-Inszenierung weitaus stimmiger als die vorangegangene „Irrelohe“ (siehe nmz Online vom 8.11.2010). Stringent umgesetzt erscheint die Lesart von Gretes dissoziativer Störung über die Persönlichkeitsspaltung bis hin zur partiellen Heilung der eigenen Traumata durch die „Form eines Kunstwerkes“ (Dramaturgie: Janine Ortiz). Ein Bewegungschor junger Damen, die mit pink leuchtenden Bestrahlungsgeräten Bräune suchen (Choreographie: Miguel-Angel Zermeño) mischen sich mit Chor und Extrachor in der Einstudierung von Sibylle Wagner zu einer heutigen Fun- und Wellness-Gesellschaft.

„La Casa di Maschere“, das ist in Weises Inszenierung, mit dem Einsatz von Versenkungen und Drehbühne und vier Scheinwerfertürmen, an denen die Solisten klettern und turnen (geradezu akrobatisch der Bariton Renatus Mészár), das Bonner Opernhaus selbst. Dies wird spätestens deutlich, wenn der zweite Sänger des Freier-Wettstreits um die Luxusdirne Greta in der hinteren Parketthälfte auf einer Glühbirnenbrücke herabschwebt, die in den Nachkriegsjahren im Bonner Theater anstelle von Kronleuchtern gehoben und abgesenkt wurde. Danach stürmt die Gesellschaft des venezianischen Bordells (auf der Wiener Praterinsel) singend und kommentierend die Gänge und Treppenhäuser des Zuschauerraums.

Bisweilen  wird das Klangspektrum Schrekers im Spiel noch erweitert, etwa bei der Erzählung von der Kegelrunde, wobei hier zum Xylophoneffekt im Orchester das Klappern, Fallen und Schlagen der mit Bierflaschen nachgestellten Partie auf der Bühne erfolgt.

Die offenbar zur Illustration von Schrekers Vogelkonzert – während des ungekürzten, großen Zwischenspiels des dritten Aktes – konzipierten acht Singvögel auf Schautafeln, blieben glücklicherweise beim skurrilen Erklingen der Bläser über den Ganztonskalen der Streicher unsichtbar, wurden aber am Ende der Oper – nun völlig unpassend – doch noch herabgelassen.

Szenisch fragwürdig ist die in Bonn multipel vollzogene Koppelung der Rollen. Anjara I. Bartz als Altes Weib ist identisch mit der Spanierin im Bordell und auch mit der Bedienung im Wiener Opernbeisel, was durch eine Gehhilfe noch verdeutlicht wird. Mark Rosenthal, der in der Partie des Zweifelhaften Individuums im dritten Akt Grete als Straßenhure Tini outet, tritt in der „Casa di Maschere“ als Chavalier auf. Hier begegnet der Zuschauer auch dem Wirt des ersten Aktes in unverändertem Outfit (Kostüme: Dorothea Wimmer) als Baron wieder; dass Frank van Hove im dritten Akt auch noch Fritz’ Freund Rudolf (auf die Nennung dieser Partie verzichtet der Programmzettel) unverändert in Dress und Clownsmaske interpretiert, ist ebenso verwirrend, wie die Tatsache, dass durch Renatus Mészár der Winkeladvokat Dr. Vigelius und der um Greta werbende Graf wohltönend zu einer Person verschmolzen sind.

Was dramaturgisch nur kompliziert, aber kaum glaubhaft nachvollziehbar zu begründen ist, löst sich hingegen qualitativ ein: Die Rollenkoppelungen als Sparmaßnahmen garantieren durchwegs die qualitative Anhebung der Aufführung. Deren sängerisches Gesamtniveau ist enorm, etwa auch in der Besetzung von Gretes Mutter mit Suzanne McLeod (unvergessen als Brünnhilde auf dem Fließband), die mit Stimmgewalt und Nuancenreichtum aufzeigt, was aus Grete beim Verbleib in der Bürgerlichkeit geworden wäre. Ingeborg Greiner verkörpert stimmlich und darstellerisch überzeugend den Auf- und Abstieg, Traum und Albtraum im psychischen Krankheitsbild Gretes. Sehr zurückhaltend interpretiert der Tenor Michael Putsch, der in der Premiere (zu Mathias Schulz’ Gesang) nur stumm gespielt hatte, das Psychogramm eines Komponisten, der das Lied von Glück und Lieben zu singen vermag, aber an der Zeichnung des Elends scheitert.

Mit Will Humburg als einem souveränem, im besten Sinne zugleich akribischen wie routinierten Rundum-Dirigenten als Zentrum, wird „Der ferne Klang“ am Opernhaus Bonn als ein Totaltheater zum Ereignis. So gelingt dort die mit Abstand überzeugendste Aufführung dieser Oper, die der Rezensent jemals gehört hat.

Auch die dritte Bonner Aufführung war ausverkauft. Wie schon in der Premiere, gab es fragwürdigen Beifall nach dem Satz des Schmierenkomödianten, „Ich will euch köpfen, ihr Intendanten – und euch, ihr modernen Dichter“ und ungetrübt emphatischen Schlussapplaus.

Weitere Aufführungen: 26. Februar, 10.  und 17. März 2012

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!