Seit den Salzburger Festspielen anno zweitausendzwei grassiert ein Virus in der Mozartstadt. Das so genannte Anna-Fieber erfasste vor allem ältere männliche Festivaliers, die sich plötzlich wieder jung fühlten, als sie den in den Formen einer Frau auftretenden Bazillus auf der Bühne als Mozarts Donna Anna erblickten, im kurzen modischen Kleidchen, mit hübschen Beinchen und insgesamt höchst appetitlich anzuschauen. Die Aussicht, sich mit dem weiblich personifizierten Virus heuer (österreichisch für: in diesem Jahr) erneut infizieren zu können, ja: zu dürfen, löste einen Ansturm auf Impfstoff, sprich: Eintrittskarten, aus, der selbst das wohl trainierte Salzburger Kartenbüro ins Schwitzen brachte: Nicht nur die Alten, alle verlangten nach dem Serum, das süchtig macht, und wer keine Tickets mehr ergatterte, selbst nicht für zweitausend Euro auf dem Schwarzmarkt, der nahm sich für den Abend der Premiere nichts anderes vor als das Anna auf dem Bildschirm zu erleben.
Anna enttäuschte keinen Verehrer. Sie zeigte, was sie konnte, was man von ihr erwartete und sogar noch mehr. Das kurze rote Kleidchen erinnerte an die Donna Anna, die Beinchen waren auch wieder zu sehen und viel eindrucksvoller: Wie schnell sie über die frei geräumte Riesenbühne des Großen Festspielhauses zu flitzen verstanden, wie equilibristisch sie über Stuhl- und Sofalehnen eine Art Knieaufschwung zu vollführen vermochte, und erst die entzückenden Schenkelchen, die sich bei soviel Turnerei zwangsläufig entblößten: Manche Mannsbilder inklusive einiger sonst so cool-schnoddriger Kritikas-ter verloren schier Verstand und Bewusstsein. Das Anna-Virus überflutete die Hirne und so alles andere auch.
Nun hat, um das Virusgleichnis zu verlassen, Opernbegeisterung, die sich an einem Star entzündet, eine fast ebenso lange Geschichte wie das Genre selbst. Es ist ja nichts dagegen einzuwenden, wenn eine Sängerin, auch ein Sänger, die Menschen enthusiasmiert. Anna Netrebko, die aparte Russin mit lebendigen dunklen Augen und Model-Figur, entfacht einen solchen Enthusiasmus, der sogar diejenigen ergreift, die noch nie ein Opernhaus betreten haben und nun via Fernsehen erfuhren, wie eine Opernaufführung überhaupt aussieht. Jedermann glaubt jetzt zu wissen, wer oder was Verdis „La Traviata“ ist: eine Art „Lustige Witwe“ mit vielen Festen und, leider, traurigem Ausgang.
Nachdem sich der Anna-Nebel verzogen hat, bemerkt man erst, was er gnädig verdeckte: Die pauschalen Klänge aus dem Orchestergraben vom angeblich besten Opernorchester der Welt, die in diesem Anspruchsrahmen kaum akzeptablen Koloraturbemühungen der gleichwohl umjubeltosten Donna Anna, die szenische Zurichtung, die in ihrer so genannten Vergegenwärtigung kaum noch verständlich machen kann, worin eigentlich die menschliche Tragödie der Geschichte liegt. Viele Menschen kennen jetzt Anna Netrebko, wie sie singt, springt und hustet, aber Verdis Oper immer noch nicht. Vielleicht gibt es das Werk demnächst authentischer im nahen Stadttheater.