Die blamable Vorstellung der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft in Portugal hat nach den professionellen Sportkommentatoren auch die Gesellschaftsanalytiker und Tiefenpsychologen zu vielfältigen Deutungen – wie konnte das geschehen? – animiert. Der Blick zurück in die Historie half dabei. Wie war das noch 1954, als „wir“ überraschend Fußballweltmeister wurden? Deutschland war im Begriff, Krieg und Trümmer zu vergessen. Das Wirtschaftswunderland lockte verführerisch, Aufbruchstimmung durchpulste die Menschen, dazu passte vorzüglich der Welttitel im deutschen Lieblingssport, dem Fußball. Getragen von dieser Woge aus Dynamik und Optimismus brauchte Helmut Rahn nur noch den finalen Superschuss abzufeuern: Wie einst Münchhausen auf der Kanonenkugel ritt die ganze Nation auf dem runden Leder mit in ein neues, gestärktes Selbstbewusstsein.
War dieses gegenseitig sich befeuernde Wechselspiel zwischen Sport und nationaler Befindlichkeit Zufall oder könnte man darin System vermuten? Wie war es denn zwei Jahrzehnte später, anno 1974, als Helmut Schön und seine Mannen Sepp Herbergers Berner Kunststück wiederholten? Die so genannte 68er-Generation durchpulste wiederum eine im Wirtschaftswunderfett sich müde räkelnde Sozietät, und Willy Brandt schaute nach Osten, von Versöhnung und Wiedervereinigung träumend. Das Land war in Bewegung geraten. Und eine solche Beweglichkeit bescherte den deutschen Fußballern dann auch 1990 den dritten Welttitel, beflügelt von der überraschenden Wiedervereinigung der Nation.
Wer in diesen scheinbaren Zufälligkeiten ein System erblicken möchte, geheimnisvolle Wechselbeziehungen und tiefenpsychologische Koinzidenzen, den kann das Abschneiden der deutschen Kicker in Portugal nicht weiter überraschen. Wie das Land und seine Bewohner, so der einheimische Fußball. Die Adjektive dazu darf jeder für sich selbst hinzufügen. Etwas ist faul im Staate Deutschland, und nicht nur etwas, sondern reichlich viel. Shakespeares Dänemark, einst vom Dichter als verfault bezeichnet, wirkt daneben, zumindest im Fußball, wie ein Jungbrunnen. Gibt es für uns also nichts zu hoffen? Zwei Punkte, kein Sieg, Klappe! Aus!
„Was bleibet aber, stiften die Dichter“, sagte einst Hölderlin. Hilft das vielleicht in unserer gegenwärtigen Situation weiter? Wenn schon der Fußball der gedrückten Miesepeterstimmung im Lande nicht mehr aufzuhelfen vermag, existiert nicht doch etwas, worauf wir noch bauen können? Eine Art Lebenshilfe, die wie eine Vitalitätsspritze zu wirken vermöchte? Für Musikfreunde ist die Antwort einfach: natürlich, die Musik. In der Musik spielt Deutschland unverändert an der Weltspitze mit, wenn sie nicht überhaupt dieselbe markiert.
Mehr als fünf Dutzend Operntheater, ein Dutzend Rundfunksinfonieorchester, in jeder größeren Stadt ein ausgewachsenes philharmonisches Ensemble mit den „Berlinern“ ganz oben, hochqualifizierte Spezialensembles für Alte und Neue Musik, dazu immer noch mehr große Konzerthäuser mit eigenen ehrgeizigen Programmen wie Kölner Philharmonie oder Alte Oper Frankfurt.
Das Musikland Deutschland, zu dem auch die vielgestaltige Szene der U-Musik zählt, ist wirklich das, was einmal ein Bundeskanzler für die neuen Länder im Osten, leider nur visionär, beschwor: eine „blühende Landschaft“. Aber, und das darf nicht unerwähnt bleiben: auch in der deutschen Musiklandschaft finden sich oft hässliche Flecken, wo man bedrohliche Erosionen konstatieren muss. Ein florierendes Musikleben besteht nicht nur aus Opernpremieren und philharmonischen Konzerten. Zu einem solchen „blühenden“ Musikleben gehören vor allem die Dinge, über die in den Feuilletons nichts zu lesen ist. Immerhin hat ja der scheidende Bundespräsident in den letzten Jahren immer häufiger auf die Defizite im schulischen Musikunterricht, auf die wachsenden Existenzsorgen der Musikschulen, insgesamt auf die Wichtigkeit einer musisch geprägten Bildung hingewiesen. Schlimmer als die Löcher im Haushalt des Finanzministers könnten eines nicht allzu fernen Tages die Defizite im Seelenhaushalt der Menschen sein. Noch ist es nicht soweit. Noch trägt die gewachsene Substanz unseres Musiklebens über manche Widrigkeiten vor allem ökonomischer Art hinweg. Der deutsche Fußball aber darf als Menetekel begriffen werden: Wer sich gewissen negativen gesellschaftlichen Entwicklungen allzu bequem andient, wird unweigerlich mit in den Abstiegsstrudel gezogen. Sepp Herbergers Ball ist nicht länger prall und rund, sondern schlapp und luftleer. Das deutsche Musikleben aber hat die Aufgabe, sich dem gegenwärtigen allgemeinen Schlamassel couragiert und ohne zu ermüden entgegenzustellen; Tag für Tag und nicht nur neunzig Minuten. Was bleibet aber, stiften die Dichter, Komponisten, Künstler. Vielleicht könnte das auch unserem Fußball helfen, wenn seine Protagonisten ihre Tätigkeit wieder mehr als „Kunst“, als Fußballkunst begriffen. Zur Kunst aber benötigt man vor allem Phantasie. Lieber also mal ein gutes Buch lesen, eine gute Musik hören , ein gutes Bild betrachten als zum nächsten Werbetermin zu jetten. Das gilt nicht nur für Fußballer, sondern für alle.