Jünger, weiblicher, vielfältiger: So lässt sich in Kürze die Besetzung des Musikratspräsidiums beschreiben, das im Rahmen der diesjährigen Mitgliederversammlung neu gewählt wurde. Man könnte fast meinen, die Delegierten hätten sich das Votum Ilona Schmiels zu Herzen genommen, die in ihrem kurzen Impuls zu Beginn der öffentlichen Veranstaltung am Vortag (Thema: „Neustart Musik“) die Musikratsmitglieder aufgefordert hatte, tatsächlich nach der Pandemie und in den „fragilen Zeiten“, in denen wir leben, einiges neu zu denken, Dinge zu verändern, alte Zöpfe abzuschneiden.
Schmiel bezog sich dabei allerdings nicht in erster Linie auf Gremienstrukturen, sondern auf ihren eigenen Aktionsbereich: Als Intendantin der Tonhalle Zürich achten sie und ihr Team stärker als zuvor auf die Nähe zum Publikum. Nach allen musikalischen Veranstaltungen wird diese Nähe hergestellt, indem die Musikerinnen und Musiker direkten Kontakt mit den Zuschauerinnen und Zuschauern aufnehmen, mit denen ins Gespräch kommen, die sich das wünschen, um eine Bindung herzustellen, die nach anderthalb Jahren „Sendepause“ erneuert und gefestigt werden muss.
Der Aufruf, Neues zu denken, wurde in den sich anschließenden Diskussionen leider nur sehr begrenzt aufgegriffen. Die drei Podiumsgäste, neben Schmiel Gerhart R. Baum, Kulturratsvorsitzender in Nordrhein-Westfalen und seit Jahrzehnten ein Kämpfer für die Sache der Musik, und die freie Musikerin Christina Lux machten ihre jeweiligen Positionen deutlich: Wenn wir Kultur ermöglichen wollen, so Baum, braucht es einen gesellschaftlichen Konsens. Gleichzeitig dürfe man sich nicht ans Publikum anbiedern und keine Quotendiskussionen zulassen, schon gar nicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Lux wiederum berichtete aus ihrer Situation als Solo-Selbständige und damit Musik-Unternehmerin. Neu oder gar kontrovers war das nicht, ebenso wenig die Mehrzahl der weiteren Statements, die bei der Öffnung ins Plenum abgegeben wurden. Da wurde in wohlformulierten Reden erklärt, plädiert, gefordert, worin sich sowieso alle Anwesenden einig waren: wie wichtig die Kultur für Erhalt und Entwicklung der Gesellschaft ist, wie bedeutend die kulturelle Bildung, wie zentral die Forderung nach gemeinsamem Handeln statt Durchsetzung von Partikularinteressen. Diese Art der Diskussion mag zum Teil dem Wunsch nach Wahlstimmen einiger Präsidiumskandidaten geschuldet sein, war nichtsdestotrotz eine verpasste Chance – bei so viel Fach- und Sachverstand, der in diesem Plenum vorhanden ist.
Eine zweite Denkanregung Ilona Schmiels: Das Bewusstsein für den Wert von Musik entstehe durch Schlüsselerlebnisse. Vorzugsweise im jugendlichen Alter – und vorzugsweise durch musikalische Live-Erlebnisse. Die digitale Rezeption von Musik, wie sie während der Pandemie stattfand, könne solche Erlebnisse nicht liefern. Und dann: „Wir haben vor Corona die Politiker zu wenig in unsere Arbeit eingebunden.“ Ihr Plädoyer: die existierenden Education-Programme um eines zu erweitern, nämlich eines für politische Entscheidungsträger. Auch diese bräuchten solche Schlüsselerlebnisse, so Schmiel, um den Wert von Musik und Kunst richtig einschätzen zu können. Eine interessante Idee – hier wäre ein Weiterdenken darüber, wie und wo diese möglich sind, spannend gewesen.
Dies fand nicht statt, immerhin eine inhaltliche Abstimmung über den „7. Berliner Appell“, der dann am Folgetag von der Mitgliederversammlung verabschiedet wurde. Überschrieben mit „Musik ist unser aller Leben“ enthält er in seinen acht Forderungen einen Rundumschlag über das, was für den Erhalt einer reichhaltigen Musiklandschaft in den kommenden Jahren nötig ist. Das gilt es jetzt an den richtigen Stellen zu platzieren und durchzusetzen – am besten verbunden mit den entsprechenden „Schlüsselerlebnissen“.
Der wichtigste Punkt an diesem Musikratswochenende, das zur spürbaren Freude der Delegierten in Präsenz stattfinden konnte, waren sicher die Wahlen zum Präsidium. Immerhin 18 Positionen gab es zu besetzen. Ohne Gegenkandidaten wurde Martin Maria Krüger zum fünften Mal zum Präsidenten gewählt – nach Informationen von Anwesenden mit 17 Gegenstimmen und 10 Enthaltungen. Diese Zahlen konnten bis Redaktionsschluss durch den Musikrat nicht bestätigt werden. Er schlägt damit alle Langzeitkanzler der Bundesrepublik um Längen. Bei der Besetzung der Vizepräsidentenposten gab es immerhin eine Wahlmöglichkeit. Die Wahl der übrigen Präsidiumsmitglieder, 14 Positionen, für die es 21 Bewerberinnen und Bewerber gab, glich dann einer kleinen Palastrevolution. Zuvor war lautstark Werbung gemacht worden für die Kandidatur von Frauen. Dem waren viele teils auch junge Frauen gefolgt. Auch die Riege der männlichen Bewerber zeigte sich verjüngt. Und siehe da: Alle Kandidatinnen wurden gewählt (im Durchschnitt mit deutlich höherer Stimmenzahl als die männlichen Bewerber) – mit der Folge, dass das 19-köpfige Gremium nun quasi paritätisch besetzt ist. Ob die „Neuen“ den Alteingesessenen jetzt ordentlich Wind um die Nase blasen, für Veränderungen in der Sitzungsgestaltung, Einbindung von Mitgliedern, Stärkung der Fachausschüsse – oder einfach für eine frische Art der Kommunikation sorgen? Das wird abzuwarten sein.
Bei aller Freude über dieses Aufbruchssignal muss aber auch konstatiert werden: Obwohl in fast allen Bewerberstatements die Bedeutung der musikalischen Bildung eine zentrale Rolle spielte, wurden die Vertreter dreier großer Verbände, die sich komplett oder vorwiegend der musikalischen Bildung widmen, nicht (mehr) gewählt. Deutscher Tonkünstlerverband, Bundesverband Musikunterricht und Bundesverband der Freien Musikschulen sind im höchsten Gremium des Dachverbandes nicht vertreten. Aufgabe wird es daher auch sein, deren Expertise dennoch in die Arbeit der nächsten vier Jahre einzubinden.