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José Cura und Vesselina Kassarova in der Berliner "Samson"-Inszenierung. Foto: Barbara Aumüller
José Cura und Vesselina Kassarova in der Berliner "Samson"-Inszenierung. Foto: Barbara Aumüller
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Auf und neben den Bahngleisen: „Samson und Dalila“ an der Deutschen Oper Berlin

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Offenbar mit Bezug zum Liszt-Jahr steht das durch Franz Liszt 1877 in Weimar uraufgeführte Meisterwerk von Camille Saint-Saëns unter dem deutschen Titel „Samson und Dalila“ auf dem Spielplan der Deutschen Oper Berlin. Auch Liszts Ururenkelin Nike Wagner, Intendantin des Weimarer Festivals „Pèlerinages“, war unter den Premierengästen. Aber nicht die Weimarer Urfassung erklingt in der jüngsten Berliner Neuinszenierung, sondern – schon mit Rücksicht auf die Einsetzbarkeit internationaler Stars – die 1892 in Paris uraufgeführte Zweitfassung der Oper, in französischer Sprache.

Der britische Regisseur Patrick Kinmonth siedelt die auf einer Tragédie-lyrique Jean-Philippe Rameaus fußende, alttestamentarische Handlung in der Entstehungszeit und im Heimatland des Komponisten Saint-Saëns an. Im Einheitsbühnenraum von Darko Petrovic führen drei Eisenbahngleise aus der Bühnentiefe bis an die Vorbühne.

Die Gesellschaft der Israeliten und ihrer Unterdrücker ist ambivalent vermischt, aber es gärt, und politische Provokation verlangt nach einem Gegenschlag. Samson, der Anführer der Israeliten, verfasst Pamphlete und haust mit Dalila, einer rot gewandeten Kurtisane, in einem Luxus-Schlafwaggon. Die Beziehung, der bereits ein knapp zehnjähriger Knabe entsprossen ist (eine Parallele zur „Idomeneo“-Premiere des Vorabends!), scheint in die Jahre gekommen. Im zweiten Akt sind Gras und Blumen zwischen den Gleisen gewachsen, aber noch immer nicht hat die Doppelagentin Dalila das Geheimnis von Samsons Stärke erkundet. Dem hoch zu Ross bei ihr erscheinenden Oberpriester verspricht sie, Samson – schon aus eigenem Interesse – zu Fall zu bringen. Samson vereinigt sich mit ihr auf einer Schienentransportkarre, sie aber ruft im Augenblick seiner Schwäche seine politischen Gegner herbei; anschließend ohrfeigt sie ihr Kind brutal. Das kehrt sich zum Vater, der ungeschoren bleibt und auch keine Mühle antreiben muss, aber doch innerlich leidend auf dem vielfältig bespielten Souffleurkasten der Vorbühne liegt. Stimmen seiner Landsleute dringen anklagend aus dem Off zu ihm, er aber lässt sich von seinem Sohn zum Clown schminken.

Anstelle des Dragon-Tempels dann der Blick auf eine Monetsche Gesellschaft an einer rampenparallel hochgefahrenen Festtafel, auf welche sich Clown Samson legt und auf der ihn Dalila verhöhnt. Aber es ist dann nicht der stumme Knabe des Originals, der Samson an die Säulen führt, auf dass er den Tempel seiner Gegner zum Einsturz bringe, sondern zwei Lesben legen ihm ein Tuch über den Kopf. So dehnt Samson nicht etwa als Kraftakt die Schienenstränge, sondern erlebt unter seinem Schleier – und mit ihm die Zuschauer – visionär, dass sich alle bis auf die Unterwäsche ausziehen; und anstelle einer Einsturzkatastrophe werden auf den vordem nicht benutzen beiden Gleisen, links und rechts, zwei Viehwaggons mit geöffneten Türen sichtbar, – bereit zum Abtransport der Israeliten in die Gaskammern.

Trotz minutiös gearbeiteter Personenführung erschließt sich dem Zuschauer die Handlung weder in ihrer Primärstruktur, noch auf den nachschöpferischen Deutungsebenen einer vergeblichen Identitätssuche. Vermutlich wusste das britische Regieteam dieser Koproduktion mit dem Grand Théatre de Geneve nicht, welche Bedeutung ein in den Zuschauerraum führendes Bahngleis an der Deutschen Oper Berlin besitzt: war es doch die optische Klammer von Götz Friedrichs erster und letzter Inszenierung an diesem Haus. Im Gedächtnis der jüngsten Schienenproduktion bleiben Tableaux vivants, vom Lichtdesigner Manfred Voss (der diesmal ausdrücklich erwähnt werden soll) in faszinierend wechselnde Stimmungsräume getaucht.

Als Pantomime wird im ersten Akt auf den Schienen ein zirkulierender Totenschmaus der Israeliten zelebriert, aber ohne das für diese Opernhandlung so wichtige Ballett, bleibt eine entscheidende Komponente dieses Kunstwerks in der Nachfolge der Grand Opéra auf der Strecke: das vom Komponisten für Paris noch erweiterte Bacchanal vor dem Schlussbild findet hier vor herabgelassener Kurtine als Zwischenspiel statt.

Musikalisch vermag in erster Line das makellos disponierte Orchester der Deutschen Oper Berlin unter dem Pariser Dirigenten Alain Altinoglou zu entschädigen. In bester französischer Manier musizierend, sorgt es für große Stimmungsbögen. Sinnliche Faszination in der Interpretation dieser Partitur zwischen Wagnerschem Musikdrama, mit leitmotivischen Melodien und den Versuchen Dalilas, Samsons Geheimnis zu lüften, als einem Pendant zum Frageverbot in Wagners „Lohengrin“, und pentatonisch orientalischem Kolorit. Im Mittelakt entfesselt Altinoglou ein veritables Gewitter der Gefühle und deutet (ähnlich wie seinerzeit Boulez mit seiner Interpretation des „Rheingold“-Vorspiels als Maschinenmusik) ein Thema zum stampfenden Geräusch einer Dampflokomotive um.

Der auch in den diffizilen Fugati sehr präzise Chor der Deutschen Oper Berlin, einstudiert von William Spaulding, lässt im akustisch ungünstig offenen Raum vorbildlich singend und wirkungsvoll agierend, die ursprüngliche Oratoriums-Absicht des Komponisten deutlich werden.

Äußerst prominent besetzt ist das Protagonistenpaar mit José Cura und Vesselina Kasarova. Der Tenor, der zwischenzeitlich auch als Komponist und Regisseur hervorgetreten ist, singt nicht mehr mit seiner ursprünglich faszinierenden Leichtigkeit, vermag aber mit intensiven Exklamationen, wie mit ersterbenden Piani, bezwingende Wirkung zu erzielen. Sein spezielles Talent als Showmaster stellt er unter Beweis, wenn sich die Kurtine beim Schlussapplaus allzu lange nicht öffnet und er, wie ein Pferd, dagegen ausschlägt.

Kraftvoll und gestaltungsintensiv, mit starkem Contralto-Charakter, lässt die bulgarische Mezzosopranistin Kasarova bei häufig gutturaler Klangbildung einiges an Wärme vermissen, was diese Partie sonst auszeichnet. Besondere Stimmkultur beweist der kroatische Bassbariton Ante Jerkunika in der kleinen Partie des Alten Hebräers, und Laurent Naouri verfügt als Oberpriester des Dragon über eine Bandbreite an charakteristischen Schattierungen.

Erboste Zwischen- und Buhrufe zwischen den Akten, wohl noch gesteigert durch das Missfallen über Auditoriums-Suchscheinwerfer während des Vorspiels zum dritten Akt, kulminierten am Ende des Premierenabends, insbesondere beim Auftritt des Regieteams. Die Irritation färbte aber auch ab auf den nicht sehr ausgiebigen Gesamtapplaus, mit primärem Zuspruch für die musikalische Seite der Neuproduktion.

Weitere Aufführungen:
19., 21., 26., 29. Mai, 2. Juni und 5. Juni 2011

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