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„Der Sandmann“ in Basel. Foto: Monika Rittershaus
„Der Sandmann“ in Basel. Foto: Monika Rittershaus
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„Augen auf bei der Partnerwahl“: Andrea Lorenzo Scartazzinis Oper „Der Sandmann“ in Basel uraufgeführt

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Lange bleibt die Bühne dunkel. Gleißend hell ist ihr Rand illuminiert, der Kasten selber tief schwarz. Musik tastet sich herauf – ein zunächst nicht besorgniserregendes Orchester-Prélude, wie es auch in konzertantem Kontext erscheinen könnte. Da es aber aus dem Dunkel kommt und nolens volens die Aufmerksamkeit auf die mit der „Sandmann“-Thematik angekündigten sinistere Begebenheiten richtet, beginnt man womöglich, einzelnen Klangfiguren und Signalen größere und spezifische Aufmerksamkeit beizumessen. Stochert dies Instrumentalvorspiel nicht doch irgendwie in einer zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen Kindheit, einer von vielfältigen Verdrängungen geprägten Jugend? Der Tonsatz gewinnt jedenfalls zunehmend schärfere Konturen und „bedient“ des Weiteren dann die Theatersituationen passgenau.

Auch die Ökonomie und Treffsicherheit der bei den Singstimmen eingesetzten vokalen Mittel beginnt zu überzeugen: Andrea Lorenzo Scartazzinis Partitur prägt neben Partien des Beziehungs-Parlandos von zwei jungen Leuten, Nathanael und Clara, deren individuelle Charakterisierung aus: diesen Ich-Erzähler Nathanael zeichnen das Libretto, die Musik und die präzise passende Inszenierung von Christof Loy übereinstimmend als völlig ichbezogenes Element mit geballtem Leidensdruck, Melancholie, Lebens- und Versagens-Ängsten bei gleichzeitiger Tendenz zur Selbstüberschätzung.

Im Kontrast dazu sie – Clara als die positiv gestimmte, rechtschaffene, wohlmeinende und blitzsaubere Bankbeamtentochter, die sich mit einem demonstrativen Ton des Entsagungsvollen „für ihn entschieden hat“. Ein leise terroristischer Geruch der gesellschaftlichen Normalität geht von ihr aus. Die Sopranistin Agneta Eichenholz, Clara und zugleich Claras Gegenbild, die „rassige Italienerin“ Clarissa, kann mit der gelegentlich ziemlich exaltierten Doppel-Partie eine stattliche Bandbreite weiblicher Werbeschemen und Beziehungsclinch-Techniken extrapolieren. Die Musik erscheint gekonnt zugespitzt auf theatrale Situationen. Sie allein und für sich genommen könnte derart subtile, ironische und erheiternde Charakterisierung kaum leisten.

Von besonderer Delikatesse erscheinen auch zwei schrill und grotesk ausgestattete Charakter-Partien, mit denen die beiden geheimbündlerisch verbundenen alten Herren vorgeführt werden: Nathanaels auf grässliche Weise zu Tode gekommener Vater und dessen Compagnon Coppelius, der einst „Sandmann“ genannt wurde. Nicht nur beiläufig profitiert die Wahrnehmung des Scartazzini-Sounds wohl auch davon, dass gerade dieses erste der „Nachtstücke“ des auch an den frühen Formen wissenschaftlicher Psychologie höchst interessierten Autors E.Th.A. Hoffmann eine Spur in der Geschichte der Psychoanalyse hinterließ – durch Sigmund Freuds Studie „Das Unheimliche“.

Die zweite Oper des 1971 in Basel geborenen Komponisten Scartazzini stützt sich auf eine relativ bekanntes Stück Literatur: Die Erzählung „Der Sandmann“ eröffnete 1816 die Novellen-Sammlung „Nachtstücke“ von E.Th. A. Hoffmann, Dafür, dass das Projekt nicht nur eine „Literaturoper“ in herkömmlichem Sinn abgibt, sorgte Thomas Jonigk. Der Librettist destillierte neun Szenen und einen Epilog aus der Künstler-Novelle, durch die sich ein Problemstück zum Thema „Wahnsinn und Genie“ ergibt. Für Jonigk ist der verwirrte Held der literarischen Vorlage eine „moderne“ Figur: „Er hat sich in den Ängsten seiner Kindheit verfangen, und er hat sie mit sich genommen in die Welt des Erwachsenen. So verpflanzt er sie immer weiter, bis hinein in seine Liebesbeziehungen und in seine Arbeitswelt. In seinem gefährdeten Seelenzustand sieht er sich dunklen Mächten ausgeliefert, er sieht sich verfolgt, und er kann nicht unterscheiden zwischen seinen schlimmsten Vorstellungen, einer kindischen Gespensterfurcht und dem, was wirklich ist. So wird er zum Zeugen dessen, was das heißen kann: ‚Ich ist ein Anderer.’

Vor sechs Jahren präsentierte Scartazzini am Theater Erfurt seine erste Oper „Wut“ – eine Arbeit über bedauerliche Vorfälle in der realen Geschichte des 14. Jahrhunderts, in deren Zuge ein portugiesischer König und die Granden seines Seeräuberkönigreichs Inês de Castro, die Geliebte des Infanten, der Staatsraison opferten und in Coimbra exekutieren ließen; der Kronprinz, als Pedro I. auf den Thron gelangt, nahm nicht nur grausame Rache an den Betreibern des Komplotts, sondern ließ die Leiche von Inez exhumieren, schloss mit ihr posthum die Ehe und erzwang die Verehrung der Toten. Einige Motive dieser Geschichte kehren nun – von E.Th.A. Hofmann abschweifend – in der zweiten Scartazzini-Oper wieder.

Der Titel „Sandmann“ klingt nach Kindheit und Idylle. Und mit beidem hat die Novelle von 1816 wie das neue Fünf-Personen-Stück auch zu tun. Mehr aber noch mit den Abgründen, die sich dahinter auftun. Der Sandmann – das ist der personifizierte „schwarze Wolkenschatten“, die Quelle von Unbill und Unheil im für Nathanaels Familie. Der junge Mann, der sich die kindlichen Traumatisierungen, die Erziehung mit Kopfnüssen und der Kohlenschaufel von der Seele schreiben will, wird beständig vom toten Vater heimgesucht. Thomas Piefka gibt ihn, den ehemaligen Leichenbestatter mit Leichenbittermiene. Und Hans Schöpflin nicht minder überzeugend den jovialen Kumpel mit genialischem Haarschopf und einer Schussvorrichtung im Regenschirm: „Der Sandmann macht kurzen Prozess“. Die beiden alten Kameraden setzen, Erziehungsgrundsätze dozierend, dem Jungen zu. Sie schießen ihn erst einmal über den Haufen – und dann noch einmal. Auch des Weiteren glaubt er sich immer wieder tot. Aber er hat, wie eine Katze, irgendwie sieben Leben –  Ryan McKinny zeichnet die Windungen und Wendungen der Partie, das demolierte Selbstvertrauen und den Eskapismus mit seinem geschmeidigen Bariton vorzüglich nach. Bis er dann, zur Erleichterung von Clara, dann schließlich doch im kühlen Grab liegt. Die Lebenspartnerin war keineswegs davon erbaut, was Nathanael in den Roman seines Lebens schreiben wollte oder schrieb (unklar bleibt, was er überhaupt „real“ auf die Reihe bekam und was alles er nur träumte): Empört trägt sie vor, wie er von seinen Selbsttherapieversuchen berichtet, in deren Zug er sich heillos in die rassige Italienerin verliebt. Die aber entpuppt sich mit ihrer willkommenen permanenten Ja-Sagerei und überzogenen Willigkeit als chipgesteuertes Kunstprodukt und provoziert den Merksatz: „Augen auf bei der Partnerwahl“. Überhaupt zeichnet sich das Jonick-Scartazzini-Theater durch etliche treffsichere Pointen aus.

Christof Loy lässt, indem Nathanael sie „ermordet“, eine größere Menge Kabelsalat aus ihrem Bauch quellen. Den „besten Sex des Lebens“ will der Ich-Erzähler des Romans dann aber mit der auf unerklärliche Weise rasch gestorbenen Geliebten Clara gehabt haben – da sie ihm endlich nach seinen Wünschen, ohne Widerstände und Zögern zu willen ist. Diese schärfste Würze der Beziehungs- und Krankengeschichte aber bleibt in Basel literarische Fiktion in der Opernfiktion. Gibt aber Agneta Eichenholz als doppeltem Clärchen Gelegenheit für fulminante Sopran-Auftritte.

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