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Heiterer Anachronismus: Glucks „Armide“ in Amsterdam. Foto: Monika Rittershaus
Heiterer Anachronismus: Glucks „Armide“ in Amsterdam. Foto: Monika Rittershaus
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Banalität der Premiumklasse: Barrie Kosky inszeniert Christoph Willibald Glucks „Armide” in Amsterdam

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„Armide“ ist die zweitletzte Oper Christoph Willibald Glucks. Komponiert wurde sie nach dem fast hundert Jahre alten Libretto, das Philippe Quinault für Jean Baptiste Lully geschrieben hatte und das auch Händel (1711 in der Adaption als „Rinaldo“), Johann Gottlieb Naumann (1775), Joseph Haydn (1784) und Johann Rudolph Zumsteeg (1785) vertonten. Die Gluck-Uraufführung der Académie Royale de Musique fand 1777 in der Salle du Palais-Royal statt.

Es war eine doppelt alte Geschichte, die da zu Gesicht kam. Doch vermochte Gluck ihr in den Augen der Zeitgenossen eine neue Wendung zu geben: Seine Arbeit bezog sich im musikalischen Zuschnitt kontrastreich auf das Werk Lullys, das fortdauernd als Pioniertat angesehen wurde. Die Frage ist, wie diese inzwischen dreifach alte Geschichte sich heute nochmals neu erzählen lässt. Barrie Kosky hat es an de nederlandse opera in Amsterdam versucht.

Das Pendel der Gefühle

Sämtliche Zonen dieses Werks, nicht zuletzt die Musik, stammen aus kriegerischen Zeiten. In denen kam es gleichwohl allemal darauf an, die Aggression als gerecht oder gar gottgegeben erscheinen zu lassen und die Zunft der Militärs als einen ehrbaren Stand. 1575, als Torquato Tasso mit „Gerusalemme liberata“ die Textvorlage publizierte, tobte der Achtzigjährige Krieg. Das Drama Quinaults entstand kurz nach dem Edikt von Fontainebleau, mit dem Louis XIV das Toleranzedikt von Nantes seines Großvaters Henri IV widerrief und neuerlich einen blutigen Konfessionskonflikt auslöste (Verfolgung, Unterdrückung und Vertreibung der Hugenotten); zeitgleich bereitete Frankreich den Pfälzischen Raubkrieg vor. Der erweiterte sich mit den Schlachten in den Kolonien und den Seegefechten zu einem ersten Weltkrieg (französische Truppen verwüsteten u.a. die Länder rechts und links des Rheins). Schon die „bewaffnete Pilgerfahrt“ der abendländischen Adligen und Ritter nach Palästina an der Wende zum 12. Jahrhundert („Erster Kreuzzug“) verlief vor und nach der Eroberung Jerusalems fürwahr nicht unblutig.

Bei Gelegenheit der ersten Invasion christlicher Ritter im Vorderen Orient, so die Fama, soll sich in Damaskus die wundersame Geschichte der Armida zugetragen haben. Sie deklinierte das bereits aus dem apokryphen Buch Judith bekannte Motiv des Mordes beim Beischlaf nochmals durch. Die Prinzessin bekommt mit ihren Zauberkünsten den keinesfalls kampfesmüden Helden in ihre Gewalt und schickt sich an, diesen besonders gefürchteten Feind umzubringen. Doch dann jäher Gesinnungswandel: Sie will nun lieber seine Liebe als seinen Tod. Das Pendel der Gefühle schlägt wieder nach der anderen Seite aus, als der unzuverlässige Liebhaber von seinen Raufbrüdern zur christlichen Vernunft gebracht, zum Verlassen der schönen Geliebten und zur Rückkehr in die Truppe veranlasst wird.

An neuen Ufern der Musik(theater)geschichte

Die Partitur zu „Armide“ hielt Christoph Willibald Gluck für seine bedeutendste musikalische Leistung. Die hochkarätige neue Produktion in Amsterdam akzentuiert, wie plausibel diese Selbsteinschätzung war: Schon die Ouverture unterstreicht, wie sehr die in der Rokoko-Zeit zu Standards gewordenen Intonationen verlassen und neue Ufer der Musik(theater)geschichte anvisiert wurden. Für die Vitalisierung des Gluckschen Tonsatzes engagiert sich Ivor Bolton mit dem bestens disponierten Nederlands Kamerorkest – homogen und insgesamt untadelig agieren die Streicher, der Bläsersatz wird im Verhältnis dazu klug und umsichtig ausbalanciert und besticht nicht weniger.

Mit Karin Strobos und Ana Quintans verfügt Armide über zwei adrette Zaubergehilfinnen, die mit ihrem hellen Gelächter auf die Bühne stürmen, um vom Etappensieg des Heers der Armide zu berichten. Dieser Triumph hat nur den kleinen Schönheitsfehler, dass sich der tapferste und gefährlichste Gegner weder bei den Leichen auf der Walstatt noch bei den Gefangenen befindet. Die beiden Assistentinnen bringen ihre Sopranstimmen bestens zur Geltung und turnen auch allerliebst durch eine Pfütze, die ergiebiger Regen in der Wüste entstehen lässt. Frédéric Autun profiliert sich als eleganter und angesichts der massiven Versuchung leicht melancholischer Tenor. Als ihn unerklärliche Kräfte in so etwas wie gesungenen Liebestaumel verfallen lassen und er auf die stämmige Kanadierin Karina Gauvin zugreift, kann er sein Glück kaum fassen. Die Spitzensopranistin beglaubigt in der Titelpartie vom ersten Aufatmen bis zum letzten Ton eine Powerfrau. Sie setzt im großen Rund von het muziektheater am Waterlooplein ihre Kehle gelegentlich wie eine Keule ein. So verweist nicht nur ihr rund zehnminütiger Schluss-Monolog bereits kompositionsgeschichtlich auf die Liebestode von Isolde und Brünnhilde (und weiter zu Elektra und Proserpina), sondern auch die Interpretation von Gluck auf Wagner (und den Wagner-Nachfolger Strauss bzw. die Strauss-Nachfolge).

Verdrängungsleistung erster Güte

Katrin Lea Tag ließ ein Stück schöner Wüste auf die große Amsterdamer Bühne packen, das entfernt an flaches Pizzabrot erinnert. Im groben Sand haben sich verdorrt ein paar niedrige Gewächse gehalten und ein orientalischer Baum. Der wird bei der Verzauberung ergänzt durch einige weitere Bäume, die Franck Evins Beleuchtungsregie in phantastisches Licht rückt. An einem dieser exotischen Gebilde lässt Barrie Kosky – dies mag eine Angstvision der Protagonistin andeuten – ein Double der Armide dekorativ aufknüpfen und baumeln. Ansonsten folgt die eigentliche Inszenierung brav dem Plot, erscheint dabei der Historie völlig enthoben: Auf die modernen Kleider und Anzüge oder gelegentlich auch die spanischen Halskrausen des 16. Jahrhunderts, in denen ChoristInnen und StatistInnen rappeln und zappeln wie in US-amerikanischen TV-Shows, treffen ein paar Kreuzritter in scheppernden Blechrüstungen. Drei Geharnischte werden Armide als Heiratskandidaten präsentiert. Sie klappt das Visier des ersten hoch und verächtlich schnaubend auch gleich wieder zu. Dieselbe Prozedur beim zweiten und – welch feinsinniger Humor! – auch beim dritten.

Es regnet ausgiebig in dieser Wüste, rieselt Blätter, schneit anheimelnd. Das Kriegerische reduzierte sich unterm Segen von oben und mit Slapsticks auf heiteren Anachronismus und lustig gemeintes Fuchteln mit Schwertern. Es stellt eine Verdrängungsleistung erster Güte dar, den vom Werk vorgegebenen Handlungsort Damaskus gerade jetzt zu „überlesen“. Um den „garstigen Graben“, der sich zwischen der heutigen Rezeption des Werks und dessen vier historischen Schichten auftut, zu überbrücken, steigt Kosky ein wenig in die Fußstapfen Monty Pythons, ohne allerdings das geistes- und kulturgeschichtliche Dilemma verstanden zu haben und die Risiken schärferer Parodie zu teilen. Er erzählt auf nette und für manchen Geschmack wohl unterhaltsame Weise ein Märchen. Zeit- und ortlos. Er reduziert das Drama der Armide auf die Tragödie einer alternden Frau, die vom mühsam errungenen Liebhaber verlassen wird, aber auf nicht wirklich todgefährliche Weise mit dem Leben hadert. Das ist Banalität der Premiumklasse.

Vom interkulturellen und gnadenlosen Religionskonflikt, der dem Werk auch zugrunde liegt, nimmt dieser Regisseur, dessen Theater kürzlich zum „Opernhaus des Jahres“ gekürt wurde, keine Notiz. Diese Vermeidungsstrategie ist entweder auf opportunistische Weise klug (also: schlau), weil sie den Zuschauern keinerlei Zumutung bereitet. Oder sie verweist auf das Fehlen von elementarem Wissen und Kulturtechniken, die mit eleganten Anspielungen operieren. Beides wirft ein Licht auf die von einer „internationalen Jury“ getroffenen Prämierung dieser Art von Opernkunst.

Der verhaltene, aber freundliche Zuspruch des Premierenpublikums am Sonntagnachmittag stand im Kontrast zu der bereits vorab am Rande der Pressekonferenz artikulierten Kritik niederländischer und belgischer Kollegen. Ironisch fragen sie, wo denn die ganzen Juroren wären, die Mijnheer Koskys „lopende zaken“ zum „Opernhaus des Jahres“ gewählt und damit ja wohl auch den Hausherrn geehrt hätten (keiner von ihnen ließ dem Intendanten der Komischen Oper Berlin die Ehre zukommen, seine Bespaßung der Amsterdamer Bühne wahrzunehmen). Vernehmlich vorgetragen wurden grundsätzliche Einwände gegen eine Art von „Regietheater“, das den Stücken Entertainment aufpfropft, überhaupt einen in Deutschland in Mode gekommenen „speciaal geval“ des europäischen Theaters darstelle. Empört zeigten sich die Kritiker der deutschen Kritiker hinsichtlich des Umstands, dass eine als „international“ deklarierte Jury eines kleinen deutschen Privatunternehmens sich mit politischem Rückenwind wie selbstverständlich in die Belange der Opernhäuser in den Nachbarländern einmische und auf diese Weise dort Politik mache, dieser Jury aber fast nur Deutsche, ein paar Österreicher, zwei Engländer, ein amerikanischer Freund und womöglich noch ein ferninformierter Russe angehörten – kein einziger Franzose, Pole, Italiener, Spanier, Skandinavier, Niederländer oder Belgier. Kurz: Unsere so lange so freundlichen Nachbarn sehen auch auf dem Terrain der Oper (und in dessen publizistischem Begleittross) neudeutsche Arroganz und Hegemoniebestrebung am Werk. Der „Merkelismus“ greife offensichtlich durch – selbst auf entlegene Felder.

Dem war nichts entgegenzusetzen. Europäische Wettbewerbskommissare werden wenig Lust verspüren, sich mit der zwar berechtigten, aber aussichtslosen Klage der Musikkritik in den weniger finanzkräftigen europäischen Ländern auseinanderzusetzen – und die Zeitschrift „Opernwelt“ wird auf die wichtige Einnahmequelle, welche die Vermarktung der bei Lichte besehen hirnrissigen Wahl eines „Opernhauses des Jahres“ darstellt, möglichst lange nicht verzichten. Gerade weil sich da aber auf unheilvolle Weise trübes Geschäft mit Kulturpolitik mischt, wäre ernsthaft zu erwägen, die Prozedur in öffentlich-rechtliche Hände zu nehmen. Dann wären wenigstens Minimalstandards von Transparenz und Ausgewogenheit einforderbar.

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