Martin Kušej, der 2011 die Leitung des Residenztheaters in München übernehmen soll, findet gegenwärtig die Arbeit im Schauspiel-Bereich interessanter als das Inszenieren von Opern. Dennoch kehrt er immer wieder zum Musiktheater zurück. Auch seinen jüngsten Ausflug zu de nederlandse opera und sein Zugriff auf den „Holländer“ in Amsterdam darf als Bereicherung gesehen werden. Kušejs erklärter Anspruch war, die Romantische Oper von 1843 in der Version von 1860 „auf ihre Signifikanz hier und heute zu reduzieren“ und „das Drama primär auf die Psychologie der Charaktere zu fokusieren“.
Tatsächlich fand dann nach anfänglicher Reduktion zu Beginn des 3. Aufzugs – als Knalleffekt – eine entschiedene Anreicherung von Richard Wagners Handlung statt: durch ein Tableau, das sich nicht aus vergangenen Volksfestfreuden und versunkenen Gespensterwelten speiste, sondern aus einer gesellschaftlichen Konfrontationssituation des „hier und heute“.
Zuvor waren die Seelen auf eher konventionelle Weise bedacht worden – so, daß die ihnen zugewachsenen Stimmen mit optimaler Kraftentfaltung zur Geltung kamen, die Träger dieser Stimmen nicht durch größere Bewegungsabläufe in der Konzentration auf ihr „Eigentliches“ behelligt wurden, sondern stets den Dirigenten gut sehen konnten. Das kommt vielen Seelen im Auditorium entgegen, für die Oper durch solche konventionelle Nachdrücklichkeit richtig schön wird: Hartmut Haenchen steuert hoch aus. Das Nederlands Philarmonisch Orkest folgt ihm in den Sturm-Partien wie bei der Einkehr in die Behäbigkeit. Catherine Naglestad, die in samtenem Piano zur Senta-Ballade anhebt, schraubt sich rasch in den oberen Bereich der Sopran-Wucht, muß daher auch manchmal mitten in einer Phrase Luft holen – und kurz vom „Liebestod“ legt sie noch einen scharfen Zahn zu.
Der Hüne Juha Uusitalo verfügt nicht nur über einen Schädel wie ein Felsbrocken und ausreichend Bargeld in den Taschen, sondern auch über eine orkanhafte Stimme, die das Organ von Robert Lloyd ungeniert in den Schatten stellt: Daland mit seinem gesunden Geschäftssinn, heruntergekommen zum Touristikkreuzfahrt-Kapitän (oder gar Frühstücksdirektor der „Luxus-Linie“), agiert als permanent peinlicher Vater nicht auf gleicher Augenhöhe wie der „Schrecken aller Meere“, sondern eineinhalb Köpfe tiefer. Um das zu zeigen, bedarf es keiner Partitur- oder Seelenkenntnis (und schon gar nicht „der Psychologie“, bezüglich der zu fragen bleibt, welcher wissenschaftlichen oder vulgären Richtung sie sich anhängt).
Kein Schiff. Nirgends. Gespielt wird vor und hinter einer doppelten Front von Glastüren, wie sie näher nicht gekennzeichnete Geschäftsräumen oder Verkehrsmittel einfrieden. Hinter den Scheiben tobt zunächst der Sturm. Vor ihnen stranden Urlauber – knapp bekleidet und teilweise mit aufgeblasenen Schwimmwesten ausgerüstet, Sie rennen panisch hin und her, erstarren dann. Zwischen ihnen tauchen mit dem Holländer dessen finstere Gesellen auf – die Männer aus der Tiefe des Raums haben die Köpfe unter Kapuzen von Öljacken.
Vor den Glastüren, hinter denen sich dann ein Schwimmbassin zeigt, überbrücken die norwegischen Mädchen und Frauen den langen Abend – sie trocknen sich ab, sind ausführlich mit Nagelpflege und Make-up beschäftigt (Badekleidung und Unterwäsche, mit der er es häufiger treibt, mag für den Regisseur so etwas wie Vorhaut der Seele sein). Nur Senta spinnt zum Spinnerinnen-Lied. Die Solidargemeinschaft der Frauen nimmt ihr das folkloristische Instrument der Träume weg – und lange blickt sie stumm auf den hinterm Glas auftauchenden massiven Mann aus der Fremde. Diese Liebe auf den ersten Blick ist Wagnersche Psychologie – Kušej folgt ihr so willig wie artig.
Der sportiv-agile Tenor und Bergsteiger Marco Jentzsch ist eine überzeugende Besetzung für die Partie des Jägers Eric. Dem schwur die Kaufmannstochter auch schon ewige Treue, aber der arme Schlucker muß gleichsam mit Natur- und Kunstnotwendigkeit das Nachsehen haben. Hinter dem dünnen, aber harten Glas der Moderne geht es lange schlicht, schön und "werktreu" zu, bis Kušej den treusorgenden Gutmütigen ausrasten läßt und zum Amokläufer promoviert.
Der überraschende Moment ist die Feier anläßlich der glücklichen Rückkehr des Kaufherrn und Kapitäns Daland samt der Verlobung seines neuen Geschäftspartners mit Frl. Senta. Sie wird nicht aus dem Blickwinkel der Festgesellschaft gezeigt, sondern aus der Perspektive der gespenstischen Holländer-Leute: zusammengepfercht wie Boat-People kauern sie vorm rasch heruntergelassenen Metallgitter – und hinten toben sich die Kinder der anständigen Leute aus. In fortgeschrittener Laune greifen sie zu Baseballschlägern, stemmen das Gitter auf und wollen den Migranten zusetzen. Diese „Gespenster“ lassen sich allerdings mit Keulenschlägen nicht aus der Welt schaffen. Der fremde Kapitän und Senta aber ins Jenseits schicken: Eric, der zu kurz Gekommene, schießt sie vor einem schönen grauen Strandbild über den Haufen und praktiziert auf seine waidmannsmännische Weise „Erlösung durch Vernichtung“. Da geht es noch mal hochdramatisch zu und die mutmaßliche Affekthandlung sieht richtig gut aus. Wagner hat es zwar ein bißchen anders (und wohl nicht ganz so flach) gemeint, aber die „Focusierung“ auf „hier und heute“ und die Umdeutung der Charaktere kann schließlich auf Partitur und Text keine Rücksicht nehmen. Warum sollte sie auch: Man jubelt. Wagners Sound hat die Tonspur für Kušejs nicht sonderlich sensibles Schauspiel abgegeben, und das hat der Musik zunächst über weite Strecken viel Luft gelassen, sie optisch nicht übertölpelt.
So verbindet sich der subkutane Konventionalismus und die robuste Innovation bei Martin Kušej zum Erfolg und auf eine Weise, die ihn als Intendant für München bestens geeignet erscheinen läßt. So, wie dort eben Laptop und Lederhosen zusammengehören.