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Orchesterfoto Basel Sinfonietta / Fotograf: Marc Doradzillo
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Basel Sinfonietta wurde 40 und feierte 41Plus1

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Zum Spezialklangkörper für Neue Musik wurde Basel Sinfonietta erst allmählich. Am Anfang, in der langen Vorbereitungsphase für das erste Konzert von 1979 bis 1981, stand der Anspruch, „anders, besonders und überraschend“ zu sein. Dass Basel Sinfonietta nach dem 2021 ‚nur‘ digital gefeierten Jubiläum vor dem dritten Abo-Konzert das Festwochenende 40Plus1 ansetzte, hat seine Berechtigung: Durch den Einsatz einer inzwischen sechsköpfigen Geschäftsstelle gewann der administrative Professionalisierungsschub des demokratisch selbstbestimmten Schweizer Klangkörpers an Stoßkraft.

Principal Conductor Baldur Brönnimann, dessen Position ab der Spielzeit 2023/24 Titus Engel übernehmen wird, gewährleistet seit 2016 eine kontinuierliche Programmgestaltung von sechs Abo-Konzerten je Spielzeit sowie Kooperationen mit internationalen und regionalen Festivals.

Das Programm des Festwochenendes am 15. und 16. Januar erstaunt weniger als die anerkennende Selbstverständlichkeit, mit der Katrin Grögel, Leiterin Abteilung Kultur im Präsidialdepartement Basel-Stadt, Basel Sinfonietta in ihrer Würdigung längerfristige Finanzierungssicherheit zusagt. Durch diese wurde auch der Don Bosco Kulturverein im Breitequartier für den Klangkörper die neue Heimstätte, nachdem Basel Sinfonietta während der Umbauphase des 2020 wiedereröffneten Casino zahlreiche ungewöhnliche Spielstätten angesteuert hatte.

Zwischen der öffentlichen Probe zum dritten Abo-Konzert „Schwerkraft Migration“ und einem Kammermusikkonzert mit Bezügen zur Geschichte von Basel Sinfonietta in der Paul Sacher Stiftung widmete man eine Podiumsdiskussion aktuellen Themen. Die Frage nach der „Zukunft des Orchesters“ beinhaltete, inwieweit die von einer Programm- und Besetzungskommission betriebene Konzentration auf Neue Musik sich als „Spezialisierungsfalle“ erweisen und ob unter gegenwärtigen Bedingungen ‚Neue Musik‘ als Epochenbegriff nicht sogar ein Handicap bei der Publikumsgewinnung, vor allem in der jungen Generation, werden könne.

Dabei steht es im Vergleich mit Deutschland um die Etablierung Neuer Musik in der Musikstadt Basel erstaunlich gut. Basel Sinfonietta ist mit fast 70 Orchesterstellen neben dem Sinfonieorchester Basel und dem Kammerorchester Basel ein für den Kanton Basel-Stadt wichtiger Klangkörper, dessen zeitgenössisches Angebot im Zentrum des Leitbilds, nicht nur in modularen Sondernischen, stattfindet. Während in Deutschland viele Orchester über aus der Pandemie erklärbare Abo-Kündigungen klagen, können sich Basel Sinfonietta wie das Sinfonieorchester Basel sogar über einen leichten Anstieg der Abo-Anmeldungen freuen. Bei beiden Klangkörpern merkt man, dass der Dialog zum Publikum während der Pandemie lebendig blieb. Daniela Martin, Geschäftsführerin von Basel Sinfonietta, fährt einen von der Stadt Basel deutlich eingeforderten Kurs zur regionalen und internationalen Sichtbarmachung von Neuer Musik. Gestützt wird dieser durch einen starken Förderverein und eine stabile Abonnentenschaft.

Öffentliche Probe ohne rhetorische Selbstlegitimierung

Bei der öffentlichen Probe sind die wenigen Anmerkungen von Baldur Brönnimann für das programmatische Selbstverständnis aufschlussreich. Bei der Begrüßung spart er sich Überzeugungsbekenntnisse für Neue Musik und geht sofort zu Aspekten der Einordnung, der Besetzung und Spielweisen über. Das Programm „Schwerkraft Migration“ umfasst die erste Sinfonie des Schönberg-Schülers Roberto Gerhard (1952/53) als Beitrag vom Beginn der Neuen Musik, das erste Orchesterstück des Schweizers Kevin Juillerat (geb. 1989) als Uraufführung eines Auftragswerks und damit Beitrag zum unmittelbaren Gegenwartsschaffen sowie „InFALL“ (2011) von Hèctor Parra als Schweizer Erstaufführung und Beispiel für internationale Vernetzung. 21 Minuten vor, 39 Minuten nach der Pause. Das Besondere ist Normalzustand. Die 172 Seiten dicke Broschüre zum Jubiläum mit einer Chronik aller Gastspiele, Aufsätzen und Interviews zur Geschichte zeigen die Bedeutung von Basel Sinfonietta, deren Erfolgsgeschichte auf ähnlichen Programmideen und selbstbestimmten Strukturen beruht wie die des fast gleich alten Ensemble Modern in Deutschland. Die nach Komponist*innen geordnete Liste von 220 Ur- und Erstaufführungen, darunter zahlreiche Auftragskompositionen und Koproduktionen, reicht von Marina Abramovic’ „The Composer“ (2002) bis Alfons Karl Zwickers „Die Höllenmaschine“ (1998). Die Expertisen in Neuer Musik merkt man an der niederschwelligen Unbefangenheit der Musiker bei der Annäherung an das Material, egal welcher Stilrichtung inklusive Elektronik und Raumprojekten. Auf der öffentlichen Probe beeindruckte die fast wortkarge Schwingungs- und Verständigungsebene zwischen Dirigent und Kollektiv.

Beim Kammermusikkonzert in der Paul Sacher Stiftung gab Cornelius Bauer einen Einblick in die Programmkoordination der letzten Jahre. Zwei Stücke aus der Mitte des 20. Jahrhunderts vermittelten einen Eindruck vom langen Weg aus der strukturellen Opposition gegen konventionelle Kulturorchester zum Solitär für Neue Musik. Friedemann Treiber hat Bernd Alois Zimmermanns Sonate für Violine solo (1951) ausgewählt, Pierre Dekker folgt mit Luciano Berios Sequenza XIV b für Kontrabass (2002/04). Sie beide spielen mit einem Enthusiasmus, durch den man die Höranforderungen dieser komplizierten Stücke nicht als wesentlich anstrengender empfindet als die älterer Werke. Entsteht dieser Eindruck durch die selbstverständliche Präsentation oder die mehr entspannte als fragende Aufmerksamkeit des Publikums? Schwellenängste gibt es nicht, denn sie werden hier nicht herbeigeredet. Weil für das Duo Ludovic van Hellemont (Ondes Martenot) und Estelle Costanzo (Harfe) kaum originäres Repertoire existiert, bearbeiteten sie die „Monodie I“ (1975/76) des 2021 verstorbenen Rudolf Kelterborn für ihre Besetzung. Der starke Applaus zeigt neben Anerkennung für die Mitwirkenden kräftige Zustimmung für das Gehörte.

Überraschend ‚normal‘

Basel Sinfonietta wirkt noch immer überraschend, inzwischen aber auch grundsolide. Die Sensationen der Werke, die das Orchester mit dem Vertrauen seines Stammpublikums auswählt, hat weitaus mehr Gewicht als die Sensationen des Aufführungsanlasses. Neue Musik ist hier praktizierte Kontinuität. Demzufolge unterscheidet sich das Publikum kaum von dem ‚klassischer‘ Konzerte. Die Programmgestaltung erfährt eine Akzeptanz und Neugier, welche in der Regel ohne provokative Reizmittel stabil bleibt. Die lange Wegstrecke der Profilschärfung hat Basel Sinfonietta erfolgreich gemeistert. Heute geht es um stabilisierende Weiterentwicklung wie bei einem traditionellen Sinfonieorchester oder Fachensemble für Alte Musik. Eine wichtige Frage der Zukunft wird demzufolge sein, wie der einstmals ‚Wilde Haufen‘ (Selbstbeschreibung) seine Entdeckungsfreude, Offenheit und Neugier auch in der erreichten institutionellen Ebenmäßigkeit auf Höhe bisheriger Spannungsflammen hält. Wie viel „Alles ganz anders“ geht in einem Konzertleben, das sich auch in Sozialen Medien spezifische Alleinstellungsmerkmale sichern und bewahren muss?

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