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Der Bachchor Heidelberg singt Anno Schreiers „Er ist nicht“. Foto: Bachchor Heidelberg
Der Bachchor Heidelberg singt Anno Schreiers „Er ist nicht“. Foto: Bachchor Heidelberg
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Beeindruckendes Fragezeichen: Zur Uraufführung von Anno Schreiers „Er ist nicht“ in Heidelberg

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Es ist ein erschütternder Bericht, den der tote Christus geben muss: Es gibt keinen Gott. Das Universum ist leer, die Welt wird von niemandem regiert, es existiert kein Vater, der über seine Kinder wacht. Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ aus seinem Roman „Siebenkäs“ ist voller verstörender Bilder. Erleichternd, dass der Erzähler dies alles nur im Traum sieht und nach dem Erwachen zum beruhigenden Glauben an Gott zurückfindet.

Auf den jungen Komponisten Anno Schreier übt Jean Pauls Text schon länger eine Faszination aus, inspiriert ihn zu Musik. Es lag daher für Schreier nahe, die „Rede des toten Christus“ als Textgrundlage für eine Auftragskomposition, die am 16. Mai 2010 in Heidelberg uraufgeführt wurde, zu nutzen. Das Werk „Er ist nicht“ für Mezzosopran, Chor und Orchester war Schreiers Beitrag als „composer in residence“ beim Philharmonischen Orchester Heidelberg zum 4. Bachchor-Konzert, das zugleich auch eines der Festkonzerte zum 125. Bestehen des Bachchores war. Die Komposition sollte ein „Vorspiel“ zu Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe bilden.

Jean Pauls Gott negierenden Text vor die Mess-Worte, vertont durch den tiefgläubigen Bach, zu stellen, ist – vorsichtig formuliert – eine interessante Wahl. Schreier, Jahrgang 1979, schreibt dazu, sein Werk solle „ein kleines Fragezeichen vor Bachs gigantische h-Moll-Messe“ setzen. Das ist, um es vorweg zu nehmen, gelungen.
Die Komposition beginnt mit Pauken und Trompeten, die allerdings nichts fürstlich-festliches an sich haben, sondern scheinbar die Apokalypse einleiten. Nahezu durchgehend ist das Stück von einer unterschwelligen Unruhe geprägt: In den tiefen Registern grummeln Tremoli. Jean Pauls Text wiederzugeben ist Aufgabe des Mezzosoprans, der Chor übernimmt die kurzen Passagen der direkten Rede, die vor allem in der anklagenden Frage „Vater, wo bist du?“ besteht. Mal nahezu gerufen, mal geflüstert, mal mit dem Orchesterklang verschmelzend durchzieht dieser Einwurf das ganze Werk.

Schreiers Vertonung folgt den kleinsten Andeutungen im Text und setzt sie in Musik um: Die Klänge ersterben bei der Textzeile „aber es ist kein Gott“, für die Zeile „Schreiet fort, Misstöne, zerschreiet die Schatten“ imitiert der Chor wortlose Schreie. An ein paar wenigen Punkten ist dieses Verfahren der Texttreue vielleicht etwas zu weit getrieben, etwa wenn „und tropfte hinunter“ mit abwärts gerichteten Skalen von Flöte und Harfe illustriert wird. Das scheint eine doch recht abgenutzte Klangmalerei, die zum Glück eine Ausnahme bleibt. Im Gedächtnis bleiben dagegen beeindruckende Klangeffekte, bei denen die Klänge des Chors, der Solistin und des Orchesters sich mischen, verschmelzen und ineinander übergehen. Dabei sei erwähnt, dass alle Beteiligten unter der Leitung von Christian Kabitz hervorragend präpariert waren. Vor allem das wunderbar dunkle, aber trotzdem strahlende Timbre der Mezzosopranistin Bettina Ranch passte perfekt zu Stück, Chor und Orchester.

Den stärksten klanglichen Eindruck hinterließ aber die Schnittstelle von neu und alt: der Übergang zu Bachs h-Moll-Messe. Der Schlussakkord von „Es ist nicht“ löst sich auf in einzelne Töne von Flöte und Trompete, die nahezu nahtlos in den ersten Akkord der Bach-Messe übergehen. Dabei nutzt Schreier die selben Akkordtöne, mit denen Bachs Kyrie beginnt und schafft so eine Verbindung zwischen beiden Klangwelten. Inhaltlich ist die Verbindung nicht weniger beeindruckend: Schreiers Textauswahl endet mit den Worten des toten Christus „Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren“, worauf die Worte des Kyrie „Herr, erbarme dich“ folgen. Eine Kombination, die die Anrufung Gottes, der – laut Jean Pauls Text – im Höchstfall noch in der Illusion des Gebets existiert, hinterfragbar macht. Ein sehr deutliches Fragezeichen, das Schreier da vor Bachs Messe setzt – inhaltlich und musikalisch.

Das Publikum in der vollbesetzten Peterskirche in Heidelberg nahm dieses Fragezeichen positiv auf. Obwohl nach Schreiers „Er ist nicht“ noch die zwei Stunden der Bach-Messe folgten, spendete das Publikum vor allem auch dem Komponisten besonders herzlichen Beifall.

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