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Wir sind ganz still. Foto: Hufner
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Berlin ist …? Arm, aber sexy und … sinn- und singbefreit dämlich

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Dämlich? Wieso. Kann nicht sein. Oh, doch. Mit der neuen Coronaverordnung tritt in Berlin (!!!) folgende Regelung in Kraft: „In geschlossenen Räumen darf nicht gemeinsam gesungen werden.“ Der Grund ist naheliegend: Man könnte es draußen schließlich nicht hören. Welchen Sinn soll gemeinschaftliches Singen denn sonst haben, wenn man es doch nicht hören kann. Chöre werden also aufgefordert, draußen zu singen! Das steht allerdings leider nicht der neuen Verordnung, sondern das twittert der Berliner Kultursenator Klaus Lederer, der die Regelung verteidigt:

„Lieber @CVB_Berlin , was ist: wollen wir nicht im August alle Chöre aufs Tempelhofer Feld #Berlin einladen? Und wir bilden einen tausendstimmigen Chor? Die @SenKultEu ist gern bereit, Unterstützung zu leisten. Es darf auf ein paar Cent organisatorischen Aufwand kosten. #COVID19“, schreibt er da am 25. Juni 2020.

Das ist so sehr von Senats Gnaden, dass man sich nur noch auf Knieen in die Nähe des Kultursenators trauen möchte. Danke, danke, danke! Geht doch. Man muss nur irgend einen Murks in ein Gesetz gießen, und statt es auszubessern verspricht man den Betroffenen ein Fest auf einer ehemaligen Flugzeuglandebahn mit ordentlich Unterstützung in wahrscheinlich doch zweistelliger Centhöhe!

Schon ein Blick in Situationen wie singenden Familien (oder Haushalten!), die gerne mal zusammensingen zeigt auf, wie sehr das Gesetz an der Realität vorbeirammt. In Berlin begehen Sie jetzt eine Ordnungswidrigkeit. Erlaubt hingegen ist in geschlossenen Räumen gemeinsames Brüllen, Quatschen, Palavern, Rumhusten und Niesen. Oder zumindest nicht verboten.

Während also im Theater nebenan die Schauspielenden durch die Gegend spucken dürfen, ist Bel Canto auf Abstand und verteilt über weite Strecken nicht gestattet. Auch darf man politische Institutionen tagen lassen in geschlossenen Räumen, weil die da ja nur vor sich hin murmeln.

Klar, dass jetzt eben auch die Chöre sauer sind. An Sprechstücken wie Ernst Tochs „Fuge aus der Geografie“ oder gewissen Stimmen aus den Song-Books von John Cage mangelt es nicht. Solange nicht gesungen wird, ist nämlich alles okay – dem Gesetz nach; dem Sinn nach wäre es gleichwohl etwas aerolsolidierend über „Titicaca“ und „Popocatépetl“ zu flüchtend zu sprechen.

Man muss kein*e Jurist*in sein, um sofort zu erkennen, dass dieses Gesetz vor keinem Verfassungs- oder Verwaltungsgericht Bestand haben wird. Dass man diesen Schritt überhaupt unternehmen muss, ist bedauerlich. Eine selbständige Korrektur unter Einsatz gewisser Denkfähigkeiten wäre hilfreich gewesen und würde weniger politisches und gesellschaftliches Porzellan zerschlagen als es das jetzt bereits getan hat.

Und jetzt: Heinz Holligers Psalm für 16 Stimmen – von dem sein Autor gesagt hat, es handele sich dabei um einen „Lobgesang – aber mit durchschnittener Kehle“. Stimmloses Singen! Erlaubt, Herr Lederer?

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