Bereits seit sechs Jahren kooperieren Studierende der beiden Berliner Musikhochschulen, der Universität der Künste und der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“, bei der gemeinsamen Erarbeitung neuer Formen des Musiktheaters. Nun ging „K.O.“, die Kurzopern-Serie, in die zehnte Runde. Das Jubiläum im HAU 2 (der ehemaligen Schaubühne am Hallschen Ufer) vereinte drei französische Musiktheater-Werke in Originalsprache.
Bei Maurice Ravels musikalischer Komödie „Die spanische Stunde“ (Inszenierung: Maximilian von Mayenburg, Austattung: Yassu Yabara) ging es noch vergleichsweise konventionell zu, auch wenn statt Uhren ausschließlich ein Metronom auf der Bühne zu sehen war. Das lustvolle, nur vom Klavier begleitete Spiel der 1911 als „pornographische Operette“ klassifizierten Handlung fand rund um die geile Concepcion (angenehm: Amélie Saadia) einzig zwischen und in vier Holzkisten statt.
Starke neue Formen fand das zweite jugendliche Team der Studiengänge Regie und Bühnenbild (aus Ost und West der Hauptstadt) für Claude Debussys frühes Poème Lyrique nach Dante Gabriel Rosettis Gedicht, „Die auserwählte Jungfrau“. Die musikalische Bearbeitung von Tammin J. Lee schreckt nicht zurück vor Fremdeinschüben, wie es im Schauspiel inzwischen Gang und Gebe ist und wie es bisweilen auch schon im Musiktheater praktiziert wird, – etwa in Sebastian Baumgartens „Tosca“-Inszenierung an der Volksbühne.
In Matthias Nebels offenem Kunstraum gelingt Regisseurin Sarah Maria Kosel der Bogenschlag von der Jungfrau an der goldenen Himmelsbrüstung zum Sternbild Virgo mit sieben weiblichen Darstellerinnen zwischen unmündigem Kind und alter Jungfer. Mit Live-Video und vorprogrammierten Sequenzen in Schwarz-Weiß schaukelt die assoziative Show zwischen Sinnlichkeit und Albernheit, mit vielfältig bespieltem langem Haarmantel, Conference und aufglühenden Lampenringen (wie in Marthalers Bayreuther „Tristan“-Inszenierung). Lee setzt Debussys Partitur aus dem Jahre1893 mit Klavier/Keyboard-Vibraphon und Akkordeon um und schafft so paraorchestral irisierende Mischklänge.
Eine gewaltige Steigerung an Innovation erlebt der überlange Kurzopern-Abend nach der Pause, mit Debussys Opernfragment „Der Fall des Hauses Usher“ nach Edgar Allan Poe. Diese Oper ist seit ihrer postumen Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin im Jahre 1979 vielfältig interpretiert worden, aber wohl noch nie gleichermaßen radikal im Zugriff und überzeugend in der Umsetzung, wie an diesem Abend junger Künstler, noch vor dem Abschluss ihrer Ausbildung.
Da es vom Komponisten fast keine Instrumentationsangaben gibt, liegt es nahe, hier einen besonders freien Weg instrumentaler Ausdeutung zu beschreiten. Dominik Giesringls Arrangement beginnt mit aleatorischen Impressionen der präparierten und verstärkten Tasteninstrumente, sowie des Kontrabasses. Und einmal, bei einem großen Emotionsaufschwung ohne Gesang, löst eine Orchestereinspielung von Band das Live-Trio ab. In Friederike Meeses Bühnenraum führt eine kreisförmige Straße um einen Altar von Rittern aus Wegwerfprodukten.
Der in Frank Castorfs Inszenierungen häufig eingesetzte Live-Kameramann ist hier, in Georg Schütkys Operregie, ein Sänger: Martin Netter, gleichermaßen überzeugend als nuancenreicher Charaktertenor, intensiver Darsteller und in der Bildauswahl an der Kamera. Er diagnostiziert als Arzt, dokumentiert als Psychotherapeut und entpuppt sich doch als der gefährliche Drahtzieher dieser blutigen Geschichte. Roderick Usher (der Bariton Jean Denes) lebt in einer postpubertären Spielzeugwelt zwischen Rittern und Superman, aber auch seine inzestuös geliebte Schwester Madeline ist geistig umnachtet, gibt sich als selbstzerstörerischer Pfau und legt dann eine Ritterrüstung an, um der Phantasiewelt des Bruders und diesem selbst anzugehören. Und der ihn besuchende Freund (Stratis Grafanakis) schlüpft auf Betreiben des Arztes in ein Bären-Kostüm. Nach dem Exitus der Schwester fordert der Arzt einen zuvor ausgewählten Teil des Publikums zum Mitspielen auf. Die Leiche der Schwester wird aufgebahrt, und die erweiterten Akteure schlüpfen unter das Straßentuch, dessen Rückseite sich als Riesenschlange entpuppt. Diese Schlange verlässt das Theater.
Mit dem Abbruch von Debussys Skizze teilt sich das Spiel in zwei parallele Aktionen. Auch das Unwetter – gemäß Edgar Allan Poes Vorlage – spielt am Premierenabend mit: im Regen, vor dem HAU 2, agieren Frederick, Arzt und Fremder im Kreise der Publikumsmitspieler, was optisch auf zwei Kuben projiziert wird. Im Bühnenraum aber erwacht Madeline Usher zu neuem Leben, legt die Ritterrüstung ab und wandelt sich zur kriegerischen Squaw: nur vom Flügel begleitet, gestaltet die Sopranistin Dana Hoffmann nun mit berückendem Wohlklang Lieder von Debussy. Erst zum Applaus vereinigen sich beide Spielstränge.
Viel Jubel für drei überdurchschnittlich engagierte junge Ensembles und zahlreiche neue Ansätze für Klang- und Bildfindung.