Darüber, dass Alexander Pereira und Ingo Metzmacher zum Auftakt der Salzburger Festspiele Harrison Birtwistles Fantasy-Oper „Gawain“ reaktivierten, zeigte sich – anders als ein für Kindchenschemen des Musiktheaters empfängliches Publikum – das Gros der fachkundigen Rezensenten nicht sonderlich erbaut. Auch die anschließende Übertragung von Giuseppe Verdis „Falstaff“ ins Altersheim – eine nur bedingt tragfähig szenische Konzeption – stieß nicht auf ungeteilte Begeisterung. So richteten sich anschließend größere Erwartungen auf einen weiteren Doppelschlag.
Dieser kombinierte neuerlich tiefes Eintauchen in mittelalterliche Geschichte und Glaubensformen mit „modernem“ Zugriff auf ein Werk aus dem Zentrum des Repertoires – die „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ von Walter Braunfels wurden mit den „Meistersingern“ von Richard Wagner gepaart. Dies unterstreicht, dass auch das branchenführende Festspielunternehmen die ausgiebigen Blicke auf den im deutschsprachigen Raum besonders gepushten musikalischen „Jahresregenten“ nicht auslässt.
In den Salzburger Festspielhäusern breiteten Anfang August zwei großformatige Werke ihre Engelsflügel aus: Eine christkatholische Bekenntniskomposition aus der Zeit des von den Deutschen angezettelten zweiten Weltkriegs und die seit 145 Jahren als Festmusik fürs deutschnationale Volksempfinden weidlich genutzte deutscheste aller deutschen Festopern. Die in der „inneren Emigration“ entstandene aufwendige Braunfels-Musik, vor einem Dutzend Jahren unter Leitung von Manfred Honeck in Stockholm erstmals gespielt, kam 2008 mit einer vom bereits schwerkranken Christoph Schlingensief konzipierten Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin heraus – keine günstigen Bedingungen für eine Uraufführung, die nicht weniger im Sinn hatte als „historisches Unrecht“ zu rehabilitieren.
Vor diesem Hintergrund hätte sich in Salzburg eine szenische Realisation angeboten (aus mindestens ebenso plausiblen Gründen wie für „Gawain“). Immerhin beanspruchte das vom Komponisten selbst angefertigte Libretto zu den „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“, dass es „nach den Prozessakten von 1431“ zustande gekommen sei (was freilich nur teilweise der Fall ist). Überwiegend geht es um den Nachvollzug und die Reaktivierung von Wunderglauben wie um Verklärung und Auratisierung über die von Benedikt XV. 1920 vorgenommene Heiligsprechung hinaus. Juliane Banse verkörperte die jungfräuliche Johanna mit stiller Leidensmine und schönem, aber in den dramatischen Höhen nicht durchschlagkräftigen Gesang – also eher die gläubig Erweckte als die militärisch erfolgreiche Vorreiterin.
Marianische Musikmission
Nichts lag dem Libretto ferner als diskursive Fragen zu Jungfrauenmythos, Wunder-glauben und Glaubenskrieg und dem historischen Wandel, dem fragile Mythen und Glaubenswerte unterliegen. Der von Braunfels selbst kompilierte Text erscheint dezidiert parteilich und durchweg beschönigend. Er klammert die kritische bzw. ironischen Rezeption der Wundergeschichten aus dem 15. Jahrhundert, die 1755 mit Voltaires „La Pucelle“ einsetzt, völlig aus. Das Libretto beschränkt sich auf verehrungsvolle Nacherzählung der Biographie einer von „höherer Eingebung“ erfüllten oder von Hebephrenie heimgesuchten Schäfertochter aus Ostfrankreich, die vom vielleicht nicht ganz legitimen, jedenfalls aber bankrotten französischen Königs Charles VII eine Audienz erhält und die Chance, ihren „Auftrag“ zu realisieren: Sie wird Heerführerin, sorgt bei Freund und Feind für die Konnotation mit der Himmelsjungfrau und durch Überraschungseffekte bei den Angriffen ihrer Truppe für Bewunderung (wer wollte sub spezie der damaligen Denkformen ggf. gegen die Reinkarnation der ‚Gottesmutter’ kämpfen?!).
Erstes und durchschlagendes Resultat von Johannas Einsatz im Namen ihrer mehr oder minder marianischen Mission oder glamourösen Inszenierung war der Sieg vor Orléans über englische Besatzungstruppen am 8. Mai 1429. Er führte nach einem weiteren militärischen Triumph bei Patay zur Krönung von Charles in Reims. Danach holten den shooting star im Militärbusiness die Mühen des Kampfs in der Ebene ein. Der zog sich aufreibend in die Länge, zumal Jeanne von Charles politisch ausgebremst wurde und auf eigene Faust weiterkämpfte; sie wurde verraten, für 10.000 Francs an die Engländer verkauft und ins englisch besetzte Rouen überstellt, dort durch einen Hexenprozess entzaubert und auf die branchenübliche Weise exekutiert. Dass er trüben Motiven nachgegeben, seinen kritischen Verstand an der Theatergarderobe abgegeben und sentimentalem Kitsch die Vordertür geöffnet habe, wurde schon Schiller vorgeworfen.
Gut gestampft, Honeck!
Befüllt wurde die Felsenreitschule nun also mit einem doppeltem Nachhall: dem des Hundertjährigen Kriegs und dem einer in den 1940er Jahren in nostalgischer Wehmut an bessere politische und künstlerische Zeiten entstandene Tonkunst, die der Musikhistoriker Alfred Einstein als „zeitlos unzeitgemäß“ charakterisierte. Honeck ist ein Dirigent, der im Umgang mit den Wirkungen von glaubensgenährter neuerer Musik in den letzten Jahren mancherlei Erfahrung sammelte – zuletzt setzte er sich tatkräftig für die Uraufführung der 2. Symphonie B-Dur op. 81 von Thomas Daniel Schlee im Wiener Musikvereinssaal ein. Der Mann mag auch am Pult in Salzburg gespürt haben, welche Mühen die Braunfelssche Musik in sich birgt, wenn die intendierte Sogkraft zugunsten mitfühlender Anteilnahme für das von oben bestimmte Schicksal der jungen Frau aus Domrémy „greifen“ und vor allem, wenn eine neue Intensivierung des Wunderglaubens mit einer konzertanten Aufführung der katholisch grundierten, aber eben doch für die Bühne bestimmten Musik erzielt werden soll. Weil das Wiener ORF-Orchester wohl in seinen Ohren so lange nicht richtig in die Gänge kam, stampfte er zum Schluss des langen ersten Teils so kräftig auf sein Podest, dass man glauben konnte, der Hammer Gustav Mahlers sei gefallen.
Die Salzburger Aufführung der „Johanna“-Szenen von Braunfels wurde, wie die in der Regel gut informierten Kreise zu berichten wussten, mit einer bemerkenswert hohen Zuwendung des Erben aufgefüttert. Aber dadurch wird die Sache nicht besser: Diese zum Oratorium degradierte Oper erschien als musikalisches Dokument, das in gradliniger Weise die vom rechten und intensiven Glauben erfassten Figuren mit einem überwiegend tonalen musikalischen Wärmestrom bedachte, und die „Rationalisten“ mit „Kakophonie“ – also die akustisch abstraft, die an Wundern im Allgemeinen zweifeln und an göttlichen, marianischen bzw. von anderen Heiligen veranlassten im Besonderen. En Werk wie dieses heute vor allem hochzuhalten, weil seinem Autor von einer früheren deutschen Regierung übel mitgespielt wurde, erscheint aller Ehren wert – doch vergleichsweise sollte man bei der Erinnerung an die von den Nazis verfolgten Zentrums-Politiker ja auch nicht unbedingt deren Plädoyers für die Wiederherstellung des Ständestaats propagieren.
Puppenstuben-Nürnberg
Für den Auftrieb der „Meistersinger“ von Salzburg war das Große Festspielhaus zuständig. Dort wartete eine von Heike Scheele möblierte uns großzügig in die Breite gezogene Biedermeierwohnung auf Bespielung. Teilweise scheint das Mobiliar aus dem frühen 19. Jahrhundert zu stammen, z.B. ein mit Orgelpfeifchen verzierten Schreibsekretär. Ein deutliches bildungsbürgerliches Signal setzen die Goethe- und Beethoven-Büste im Vordergrund (später ergänzt durch Wagner in Gips, aber mit Barett). Zur Ausstattung gehören auch Bücherregale aus einem preisgünstigen schwedischen Möbelhaus, das alle duzt; ferner Butzenscheiben, ein großes schwarzes Tintenfass wie aus dem „Struwwelpeter“ und ein Puppen-Wagnertheater ganz rechts.
Es rumpelt. Der Regisseur Stefan Herheim lässt Michael Volle, den Interpreten der Partie des Meisterschusters, Knittelversdichters und Mustersängers Hans Sachs im Nachthemd und mit Nachtmütze auf die Bühne stürmen. Der würdige und seriöse mittelständische Sängerdarsteller greift hektisch zur Feder. Wie in bestimmten Schüben des Wahns hält er die Einfälle auf dem Papier fest – und Daniele Gatti bringt die Kapelle zum Einsatz: Frischwärts und leicht moussierend machen sich die Wiener Philharmoniker an die Arbeit. Ein kräftiger Schuss Italianità sorgt dafür, dass in der Ouverture Nebenstimmen hinausposaunen oder eine Trompeten-Fanfare auf die Nähe dieser „Großen Komischen Oper“ zum „welschen Tand“ Jacques Offenbachs und Giuseppe Verdis verweist.
Ohnedies entsteht mehrfach der Eindruck, da würden die auch nicht immer in bewährter mattseidener Eleganz aufspielenden Streicher von einer Banda aus den eigenen Reihen überrascht. Und in der Prügelfuge – dies erschien als der modernste Moment des ganzen Abends – waren Polyphonie und Gewusel auf der Bühne erheblich vom Gewühl im Graben entfernt. Warum auch nicht? Wer wollte da allzu beckmesserisch sein, wo doch Schneewittchens sieben Zwerge, der Froschkönig, das Tapfere Schneiderlein, der dukatenproduzierende Esel Bricklebrit, der gepeinigte Beckmesser, die Vogelhochzeit und der in Ohnmacht fallende Nachtwächter von Nürnberg für die heiter bunteste Belebung der Bühne sorgen?
Lortzing wieder nahegerückt
Aber so weit sind wir noch lange nicht. Sachs zieht zum Ende des Orchester-Vorspiels einen Vorhang vor, auf den die Biedermeier-Wohnung projiziert wird und so wie ein Bild von Carl Spitzweg anmutet. Durch Martin Kerns Video-Kunst zoomt die Ansicht auf die Schreibkommode – und die zeigt sich, indem der Vorgang wieder ge-öffnet wird, in gewaltiger Vergrößerung als klassizistische fränkische Orgelempore. Das ist ein rechter Coup de théâtre. Auch des weiteren werden alle Spielorte und Illustrationen aus Bildmotiven der Biedermeierwohnung abgeleitet – durch Vergrößerung und Verkleinerung einzelner Möbel und Bücher ergibt sich ein streckenweise unterhaltsamer, dann auch wieder besinnlicher Abend, der den Blick ganz dezidiert von der kontaminierten Rezeptionsgeschichte des Werks abwendet – in die „Gegenrichtung“ gleichsam. Es ist, als hätte die Wagner als Vorlage dienende Oper „Hans Sachs“ von Albert Lortzing in Szene gesetzt werden sollen.
Die Meistersinger versammeln sich und nehmen zu ihrer Herrenrunde auf umgedrehten Sektkühlkübeln Platz. Durchaus apart ist der Ausstattungsunterschied der Familien Pogner und Sachs: Der Goldschmied und Bürgermeister wohnt mit Tochter Eva und Jungfer Lene in einer prachtvoll verzierten riesengroßen Anrichte, auf deren als Balkon dienendem Sims ein in die Nacht hinaus duftender Fliederstrauß steht (bis er zu Boden geht). Der Schuster wohnt im Ikea-Schrank. Und auf die Festwiese rückt die legendäre Bimmelbahn ein, die seit 1834 Nürnberg mit Fürth verband.
Die Münchener Sopranistin Anna Gabler und die slowenische Mezzosopranistin Monika Bohinec als blondes Evchen und brünette Lene winken in die 25. Parkettreihe eher wie Lortzing-Stimmen herüber (sie fallen dort jedenfalls nicht als Wagner-Heroinen in die Ohren ein). Sie beglaubigen das auf Liebe erpichte Biedermeierfrauenduo in anmutiger und sympathischer Weise – indem sie die Kleider tauschen, funktioniert die Verkleidung realistisch (nicht, wie so oft, demonstrativ oder grotesk theatral). Aus dem Männermenschenpark ragen hervor: der wunderbar souveräne Michael Volle als Sachs, der sich am Ende in einem Anfall von Hybris selbst krönt, zusammenbricht und dann wieder sosehr ein armer Irrer ist wie am Anfang – im Nachthemd und mit Nachtmütze; Peter Sonn als sein charmanter und mit den Gesangskünsten vertrauter Lehrbub David, Markus Werba als Gegenspieler Beckmesser und groteske Spitzweg-Figur und Roberto Saccà als Junker Stolzing, der kostümiert ist, als käme er gerade von der Endredaktion der Karlsbader Beschlüsse.
Über das Für und Wider dieser sommerfrischen Produktion ließe sich noch lange plaudern. Aber es soll hier sein Bewenden haben mit dem Hinweis darauf, dass Herheim es den SalzburgerInnen und dem Gros ihrer gutzahlenden Gästen rechter als recht gemacht haben dürfte. Danke, Stefan!