Wenn Manfred Trojahn in seinem Interview auf Seite 13 davon spricht, dass die traditionellen Werte der Gesellschaft in Vergessenheit geraten sind, dann gibt das paradoxerweise Anlass zur Hoffnung, denn ohne Vergessen gibt es kein Wiederentdecken. Die Berliner Rede von Bundespräsident Horst Köhler nehmen wir als hoffnungsvolles Anzeichen für die Wiederentdeckung von Bildung und Erziehung durch die Politik. Ob der von Köhler gewünschte Ruck durch die Gesellschaft allein schon durch einen Satz wie „Gute Bildung geht nicht in erster Linie von gesellschaftlichen Bedürfnissen oder den Anforderungen des Arbeitsmarktes aus“ entsteht, bleibt offen. Ein Anfang ist allerdings gemacht. Eine Einsicht des Bundespräsidenten, die er mit John F. Kennedy teilt – „Es gibt nur eine Sache auf der Welt, die teurer ist als Bildung – keine Bildung.“ – zeigt das ganze Dilemma auf, in das eine Gesellschaft gerät, wenn sie die wichtigsten Ressourcen über die sie verfügt, nämlich die geistig-kreativen, vernachlässigt.
Bildungskanons, wie sie etwa die Konrad-Adenauer-Stiftung in ihrer Studie „Bildungsoffensive durch Neuorientierung des Musikunterrichts“ fordert, sind hilflose Versuche, ein einheitliches Bild von Musik und Kultur zu restaurieren, das es im Medienzeitalter und in einer Zeit beschleunigter Akkulturationsprozesse längst nicht mehr geben kann [Siehe dazu auch die Diskussion der Studie auf den Seiten 3-5 und Hermann Josef Kaiser Erwiderung auf Klaus Veltens Gedanken aus dern letzten Ausgabe der nmz; Anm. der Internet-Redaktion].
Ziel von Erziehung kann nicht darin bestehen, einfach zu wiederholen, was andere Generationen getan haben. Erziehung soll Menschen in die Lage versetzen, Neues zu leisten. Das ist das oberste Lernziel. Ob das an Beethoven, den Beatles oder Charlie Parker festgemacht wird, ist zweitrangig. Kinder und Jugendliche mit Entdeckerlust sind jedenfalls die beste Garantie dafür, dass Deutschland eine Kulturnation bleibt. Anstelle eines Kanons sind folglich Lernsituationen gefragt, die den Forscherdrang von Schülern mit „Food for the Mind“ konfrontieren.
Eine tragende Rolle in diesem Prozess kommt einem Berufsstand zu, der mit akuter Unterbesetzung zu kämpfen hat. Nach den neuesten Zahlen des Deutschen Philologenverbandes steckt Deutschland in der größten Lehrerversorgungskrise seit 30 Jahren. Bis zu 16.000 fehlende Lehrer verursachen jede Woche Ausfälle von etwa 1 Million Unterrichtsstunden. Ein Fiasko, wenn man bedenkt, dass die entscheidenden Weichen für die geistige und soziale Entwicklung des Menschen in dessen Kindheit und Jugend gestellt werden.
Und das Positive? Die wenigen verbleibenden – oder besser: die wenigen eingestellten – Musikpädagogen setzen sich engagiert an Schule und Musikschule mit neuem Repertoire aus E-Musik, Pop und Jazz auseinander. Wer wissen will, was in der Musikpädagogik State of the Art ist, muss nur Ende September die Bundesschulmusikwoche in Würzburg besuchen, die dieses Jahr ganz im Zeichen des Singens steht. Damit aus dieser engagierten Basisarbeit aber ein Ruck wird, der durch die Gesellschaft geht, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Da hilft auch kein ängstlicher Blick auf die Berliner Schuldenuhr. Denn wie, Herr Köhler, sagte schon John F. Kennedy? „Es gibt nur eine Sache auf der Welt, die teurer ist als Bildung – keine Bildung.“