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Biss in den Apfel: Die Operadagen Rotterdam boten 50 Musiktheater-Veranstaltungen an zehn Tagen

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Der Apfel, ein in vielen Opern besungenes Ganzheitssymbol, das somit auch auf das Gesamtkunstwerk verweisen kann, prangt plastisch auf dem Platz vor der Rotterdamer Schouwburg, einem Bespieltheater. Guy Coolen, der Direktor des traditionsreichen Rotterdamer Festivals für Musiktheater, hat den diesjährigen, mit rund 2 Millionen Euro dotierten Operadagen das Motto „Het verloren Paradijs“ gegeben. Der Apfel des verlorenen Paradieses intendiert aber auch Scheidung und Entscheidung, der Wahl zwischen Gut und Böse in einer Welt von Schmerz und Schrecken – und damit die Forderung nach einem gesteigerten Miteinander.

Darauf setzt Merlijn Twaalfhoven, der in einem ehemaligen Getreidesilo einen vokalen Vielklang erzeugt: Wie weiland Bobby McFerrin in seinen Konzerten, entgrenzt der dirigierende Komponist in „The Air We Breathe“ die Bereiche von Publikum und Künstlern in einem leicht vernebelten, von Wolkenprojektionen umgebenden Auditorium. Im Stil von arabischer, bulgarischer und schwedischer Volksmusik, sowie in klassischem Jazz intonierende Solisten aktivieren die Besucher auf ihren Podesten, den elektronisch gestützten Raumklang summend und singend zu erweitern. Dies gelingt perfekt, da die unbekannten Platznachbarn sich beim Applaus als Choristen outen, die in großer Anzahl unter die Besucher gemischt sind. Gleichwohl besitzt dieses „Festival highlight“ performativen Charakter, ist mehr ein Konzert-, denn ein Musiktheater-Event.

Weniger soziales als inneres Bewusstsein vermittelt ein Musiktheater des Essens: der Zuschauer (sprich: der Speisende) erhält Ohrstöpsel, um den Mund als Konzertraum („De mond als concertkamer“) der Essgeräusche im Raum des eigenen Körpers, inklusive eigenem Takt und Agogik, mit dem vorgegebenen Instrumentarium (sprich: den Bestandteilen eines vegetarischen Menüs) zu verinnerlichen.

Bei 50 Veranstaltungen in 10 Tagen, zu denen als „Late Night Performance Events“ auch Parties mit Musikeinlagen zählen, müssen Flops wohl mit einkalkuliert sein: Als Pendant zu einer Aufführung von Haydns „Jahreszeiten“ mit dem Vokalconsort Berlin, gab es „De Seizoenen, maar dan anders...“ zu erleben. Für jeden Satz von Vivaldis „Jahreszeiten“, jeweils gefolgt von einer Passage aus John Cages „The seasons“ komplimentierte der Cineast Eric de Kuyper das Publikum in ein anderes Segment der umgewandelten Halle. Aber leider musizieren der Violinist und die zwei Pianisten, von jeglicher Seite aus betrachtet, äußerst dürftig, und weder vier Diaprojektionen noch vier Auftritte von Statisten tragen musikalisch oder gar szenisch etwas zu Musik oder Theater bei, geschweige denn zu neuem Musiktheater.

Ein Vortragsnachmittag der Operadagen galt der Frage, auf welche Weise erfolgreiche Künstler ihre Produktionen international bestmöglich platzieren und verwerten können. Die Regisseurin und Produzentin Cathie Boyd des Ensembles „Cryptic“ in Glasgow setzt für optische Versinnlichung von Musik auf Nahaufnahmen halbnackter, konzertierender Körper und bereits auf die nächste Generation an Regisseuren, Bradley Allen vom Kopenhagener „Hotel Pro Forma“ hingegen auf die Fortsetzung seiner Erfolgsmischung von Design mit bekannten Bands. Die niederländische Choreographin Nanine Linning erreicht am Theater Osnabrück durch zusätzliche Reizentfaltung bei aufwändig tänzerischer Umsetzung einen Hype für Oper und Requiem, nachweislich volle Häuser, zusätzliche Aufführungen und Gastspiele. Neue Wege der Kooperation zwischen Stadttheater und freier Szene beschreitet der Bochumer (Schauspiel-)Intendant Anselm Weber, indem er in jeder Saison Paul Koeks Muziektheater Transparant einlädt, eine Produktion gemeinsam mit dem Bochumer Ensemble zu gestalten.

Als Beitrag für die Operadagen Rotterdam hat Paul Koek sein achtköpfiges Ensemble um die Instrumentalisten des Hermes Ensembles erweitert, die – unter seiner zugleich szenischen und musikalischen Leitung – kostümiert in einer Reihe vor einer Spiegelwand, dem Publikum vis-a-vis, sitzen und „Medea“ zur Aufführung bringen. Dabei handelt es sich um eine Neuschöpfung des Mythos. Der sehr einfühlsame Text von Peter Verhelst, vier deklamierte Statements der Protagonisten Kreon, Glauke, Jason und Medea, werden durch Wim Henderickx’ orientalisch angehauchte Komposition von Bläsern, Elektrogitarre, Schlagwerk und Elektronik, sowie von der türkischen Sopranistin Selva Erdener untermalt und so gefällig und „transparent“ transportiert.

Drastischer musikalisiert T.I.M.E. das „Medea-Material“, frei nach Heiner Müller. Zehn musizierende Darstellerinnen und ein Darsteller des Königlichen Konservatoriums in den Haag klebten die Tasten eines Pianolas als Fauxbourdon fest und mischten Oboe, Piccoloflöte und Violine mit einem mikrofonverstärkten Ventilator als Bass. Hier wird Müllers Textvorlage tatsächlich als verwertbares „Material“ verstanden, aber szenisch mit dem zweifelhaften Charme einer Hochschulaufführung.

Bunt gemischt – zwischen der niederländischen Erstaufführung von Judith Weirs „Blond Eckbert“ und Opera Brunch Concerten, einer Kammerversion von Mahlers „Lied von der Erde“ und Comedy – waren die Beiträge der freien Szene zu diesem Festival. In Form von Kurzreferaten durften die jungen Musiktheaterkünstler die Historie ihrer Gruppen, ihre aktuelle Produktion oder ein zukünftiges Projekt vorstellen. Und Messestände der freien Gruppen ermöglichten weiterführende Kontaktgespräche mit Publikum und Veranstaltern, die deren Beiträge zum niederländischen Musiktheater zumeist bereits auf DVD mit nach Hause nehmen konnten.

Die Operadagen Rotterdam 2011 waren aber auch ein Forum für internationale Konferenzen, so zwischen dem Music Theatre Committee des ITI (Internationales Theater Institut Deutschland im Rahmen von ITI international), das unter dem Vorsitz von Laura Berman für 2012 den nächsten internationalen Wettbewerb „Music Theatre Now“ vorbereitet, und dem IETM (International Network for Contemporary Performing Arts), auf der Suche nach einem gemeinsamen Netzwerk und der Interaktion für neue Musiktheaterformen und Produktionsweisen.

Stefan Johansson, Dramaturg und Regisseur in Malmö und ein langjähriges Mitglied des Music Theatre Committees, wies darauf hin, dass man in Schweden Felsensteins Titulierung „Musiktheater“ seit einigen Jahren wieder durch den Begriff „Oper“ ersetzt habe, um sich so von jenen Produktionen des Schauspiels abzusetzen, die – aufgrund des Einsatzes einiger Live-Musiker – als „Musiktheater“ angekündigt würden. Dass Schauspielproduktionen noch im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts mit eigenem Orchester aufwarteten, ist aus offenbar ebenso aus dem Bewusstsein der Theaterbesucher verschwunden, wie die Tatsache, dass heute kaum eine Schauspielaufführung auf Begleitmusik (aus der Konserve) verzichtet, ohne dass man diese deshalb als Musiktheater klassifizieren würde.

Eine öffentliche Debatte unter dem – vermutlich von Edward Albees Viginia Woolf-Drama abgeleiteten – Motto „Who’s Afraid of Modern Opera“ galt der Frage der künstlerischen Entwicklung des Musiktheaters in klanglicher Hinsicht. Neben einer Erweiterung des Klangspektrums durch das zunehmende Zusammenspiel von konventionellem Instrumentarium mit Elektronik, wurde auch hier die Tendenz deutlich, den Zuschauer, jenseits der traditionellen Guckkastenbühne, unmittelbar in das klangliche Geschehen zu integrieren.

Somit ermöglichten die Operdagen Rotterdam in ihrem fünften Jahr den Brückenschlag von Theorie und Praxis und vielfältige Proben aufs Exempel. Auch ohne Rossinis „Wilhelm Tell“ und Prokofievs „Liebe zu den drei Orangen“ haben die rund 25.000 Besucher dieses Festivals rund um den Apfel dessen Ziel getroffen.

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