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Fatale Aktualität: Cristóbal Halffters „Schachnovelle“ in Kiel. Foto: Theater Kiel
Fatale Aktualität: Cristóbal Halffters „Schachnovelle“ in Kiel. Foto: Theater Kiel
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Botschaften aus einer ferngerückten Zeit: Zur Uraufführung von Cristóbal Halffters „Schachnovelle“ in Kiel

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Nach der deutschen Erstaufführung der Oper „Don Quichote“ in Kiel 2006 und der Uraufführung von „Lazarus“ 2007 präsentierte das Musiktheater in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt unter der Leitung des GMD Georg Fritsch eine neue große Arbeit des 83-jährigen spanischen Komponisten Cristóbal Halffter: „Schachnovelle“ nach Stefan Zweig.

Anders als der Autor Zweig, der Ende Februar 1942 in Petrópolis bei Rio de Janeiro durch Suizid starb, überlebt der Protagonist der von Halffter komponierten Oper. Der Anwalt Dr. Leo Berger, der in Folge des „Anschlusses“ von Österreich ans Deutsche Reich inhaftiert und gefoltert wird, gelangt gesundheitlich schwer angeschlagen nach Südamerika. Er geht nach dem Krieg zurück nach Wien. Der nobel-zurückhaltende Verfechter menschlicher Würde mit höheren kulturellen Ansprüchen steigt bei der Rückkehr zunächst im „Metropol“ ab, das – nachdem es zwischenzeitlich als Gefängnis für Männer der konservativen Opposition gegen die NS-Herrschaft genutzt wurde – wieder Hotel ist. Der Raum, der zuvor bis auf eine Liege und einen Stuhl leergeräumt war, ist nun auch wieder mit Büchern bestückt – was der Häftling so sehnlich vermisste, hat wieder Einzug gehalten. Das ist fürwahr ein lieto fine, wie es im zeitgenössischen Musiktheater rar geworden ist.

Zweigs letzte literarische Arbeit dürfte fortdauernd seine bekannteste sein. Mit der „Schachnovelle“ resümierte der Schriftsteller, der nach Hugo von Hofmannsthals Tod als Librettist mit Richard Strauss zusammenarbeitete, seine letzte Lebensphase: den Ekel vor der austrofaschistischen und nationalsozialistischen „völkischen Erhebung“ und die Konfrontation mit der Staatsmacht. Der gesellschaftliche Paradigmenwechsel betraf nicht nur ihn, sondern die größeren Teile der Wiener Intelligenz: „Wie weit war mir die Welt, und wie eng ist sie mir jetzt“. Sätze wie dieser fundieren einen großen Opernmonolog eines Gefangenen, den Jörg Sabrowski in Kiel mit existentialistischem Nachdruck vorträgt. Es ist die Sprache der (Ur-)Großväter, die sich da neuerlich Geltung verschaffen will.

Zweigs Novelle gibt Bericht von einer unter glücklichen Umständen gelingenden Flucht und von einer Reise in eine neue Welt (das Libretto von Wolfgang Haendeler dichtete eine Rückfahrkarte hinzu). Auf dem Weg zu einem Verhör hatte Dr. B. aus der Jackentasche eines der Wachmänner ein in Papier eingeschlagenes Büchlein entwenden können und auf geistige Nahrung gehofft. Zu seiner maßlosen Enttäuschung handelte es sich um eine Dokumentation legendärer Schachpartien. Um der Verzweiflung zu entgehen, überbrückte der Gefangene die konturenlose Zeit in der völligen Isolation mit dem Nachspielen der Meisterduelle auf dem Karomuster seiner Bettdecke – mit Figuren aus der Kandiszuckerdose. Während der Überfahrt nach Südamerika trifft Zweigs Protagonist Dr. B. dann zufällig auf den Schachweltmeister Mirko Czentovic. Dessen indolente Professionalität wird durch die bis dato rein theoretische Spielintelligenz des in Devisen- und Kunstschiebergeschäfte der Habsburger involvierten Anwalts herausgefordert, aber auch die Erinnerung an die Zeit der Torturen wieder wachgerufen.

Cristóbal Halffters Tonsprache hat sich in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ausgeprägt und geschärft in Opposition zum Franco-Regime, das – wie die anderen totalitären Systeme in der Mitte des 20. Jahrhunderts – die konstruktive musikalische Moderne behinderte und unterdrückte. Die Schreibwiese des Madrider Komponisten ist sich in diesen sechs Jahrzehnten, bei mancher Weiterentwicklung im Detail, prinzipiell treu geblieben: Es ist Moderne vom guten alten Schlag. Die Fließgeschwindigkeiten, Intonationen und feinen Färbungen des Tonsatzes, der zuvorderst seinen eigenen Gesetzen und Regeln folgt, korrespondieren freilich den Raum- und Zeitvorgaben des Textes und insbesondere dessen psychischen Konstellationen. Am hörbarsten knüpft Halffter an Alban Bergs Opern an. Die Sphären der alten und neuen Welt trennt z.B. ein symphonischer Satz („in tempore belli“) voneinander wie in „Lulu“ die Zeit vor und nach der Haft. Auch die Adaption von tonalem Material in die atonal angelegte Schreibweise, z.B. einer osteuropäischen Nationalhymne, mit der die Schiffskapelle den Schachweltmeister an der Gangway begrüßt, ähnelt der Integration von Volkslied, Walzer oder Choral in Bergs Partituren.

Des Weiteren vermeidet Halffter Plakatwirkungen weitgehend, so signifikant er die Gesangspartien rollentypisch grundiert. Der Gestapo-Offizier allerdings, der die Verhöre führt, indem er monologisiert und droht, sieht in Gestalt von Michael Hofmeister nicht nur aus wie ein nachgedunkelter Schrumpfarier vom Schlage des Dr. Goebbels, sondern er countert auch grell-grotesk. Halffter schrieb eine Extrempartie für die Ungeheuerlichkeiten der staatlichen Verwerflichkeiten und Amoral. Hofmeister meistert sie an der Schmerzgrenze des allzu Outrierten.

Überhaupt sind die Typen scharf gezeichnet. Die Krankenschwester, die Dr. B. auf der Schiffspassage begleitet, bringt in einem männerdominierten Stück den Ton weiblicher Fürsorglichkeit auf. Heike Wittlieb interveniert ganz im Sinn dieser Partie. Tomohira Takada ist stimmlich wie darstellerisch als Nr. 1 auf der Weltrangliste der Schach-Asse glaubhaft: Eine entschiedene Stimme ergänzt die willensstarken Ges-ten. Und seine Schlusspointe sitzt. Der Niederlage nur knapp entronnen attestiert er Dr. B.: „Für einen Dilettanten war dieser Mensch ungewöhnlich begabt“. Andreas Winther ist gleich in vier Rollen der typische Österreicher: als der Graf, der das junge Schachgenie Czentovic aus dem kakanischen Teil Bulgariens nach Wien und ans Licht der Weltöffentlichkeit holt, als charmant moderierender Schiffskapitän, als Wärter des Dr. B. während der Haft und schließlich, in nachgerade klassischer Metamorphose, als Wiener Kellner der Nachkriegszeit.
Die Kieler Oper hat die mehr als zwei Duzend Rollen mit Mitgliedern des Ensembles besetzt. Allen voran stellt Jörg Sabrowski dessen Leistungsfähigkeit unter Beweis.

Indem er von der Maske wie der alternde Hugo von Hofmannsthal aufbereitet wurde, verleiht er der Rolle Leo Bergers nicht nur elegante Autorität und distinguierte Würde, sondern auch den Appellen für Humanität und ein geistig wohlgenährtes Leben Nachdruck. Indem er in der der vierten Szene gegen sich selbst Schach spielt und in eine heftige Spielsucht hineinsteigert, entwickelt das Orchester einen Wirbel, der wie zwangsläufig zum Zusammenbruch des Gefangenen führt. Könnte es so etwas wie surrealistische Musik geben, dann wäre sie wohl in dieser Soloszene ebenso angelegt wie in der großen Simultanszene des aus den Fugen gehenden Schachturniers auf dem Dampfer.

Norbert Ziermann hat für die rasch wechselnden Szenen eine praktikable Einfach-Ausstattung entworfen, die die wechselnden Räume im Hotel und auf dem Schiff und eine aus dem Grau der Geschichte auftauchende frühere Zeit andeutet. Der Regisseur Daniel Karasek lässt die Kiebitze beim Schachturnier in zeittypischer Manier reichlich rauchen. Hinter durchscheinender Wand tritt der Chor der Schachgeister an, dessen Mitglieder die gleichen Armbinden und Abzeichen tragen wie die anderen Schergen und Handlanger des Terrorsystems. Das äußerlich so ruhige Schachspiel ist in besonderer Weise ein Kampfsport – und er kann im Kopf einer geschundenen Kreatur die heftigsten Überlagerungen auslösen: Kampf der Geister gegen den Geist einer Zeit, die längst vergangen ist und nie mehr zurückkehren will.

Es geht mit dieser Oper um den geschärften Blick auf eine politisch besonders aufgeregte und militärisch zugespitzte Ära mit den ruinösesten Folgen für viele Völker und Millionen von Individuen. In einem Wiener Hinterhof-Souterrain, keine tausend Schritt vom Metropol entfernt, präsentierte das Pygmalion-Theater in den letzten Jahren eine Sprechtheater-Adaption der „Schachnovelle“, für die der aus Ceausescus Rumänien geflohene Regisseur Geirun Tino eine weniger linear erzählende, freilich sehr konzise Dramaturgie entwickelte. Tinos Version setzt mit dem auf dem Atlantikdampfer Schach spielenden Czentovic ein und lässt die Erinnerung an die Haftzeit, die Peiniger, den psychisch-physischen Zusammenbruch als Folge der Schachsucht ebenso wie den Willen zum Überleben ganz aus den Absencen des Dr. B. hervorbrechen (ersetzt auch die Krankenschwester durch eine der Vitalität des neuen Lebens förderliche Tango-Tänzerin). Ein analoges Verfahren wäre auch für Halffters Oper womöglich produktiv gewesen und hätte zu einem moderneren Typus von Literaturoper geführt. So aber – dies mag freilich auch an der Ausstattung und der wenig konturierten Regie gelegen haben – trat das historisch Bedingte der literarischen Vorlage überdeutlich hervor. In einer Gegenwart, in der Zeitreisen ins Mittelalter, zu dessen nachparfümierten Helden und Wanderhuren alltäglich sind, müsste ein Zeitsprung von lediglich siebzig Jahren eher unproblematisch erscheinen. Das Gegenteil war in Kiel der Fall. Trotz der fatalen Aktualität des Sujets.

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