Was immer das Jahr 2021 bringen wird, eines ist sicher: Es wird ein Superwahljahr sein. In sechs Bundesländern werden die Landesparlamente neu gewählt. Höhepunkt ist die Bundestagswahl im September, die zeigen wird, wer die Kanzlerin Angela Merkel nach langen 16 Jahren im Amt ablöst.
Für die Musikwelt ist das Super-Wahljahr mit der Bundestagswahl am 26. September noch nicht vorbei: Gekrönt wird es durch die Mitgliederversammlung des Deutschen Musikrates (DMR), die im Oktober 2021 ein neues Präsidium und zugleich eine Präsidentin oder einen Präsidenten wählt. Noch vor Jahresfrist hatte der jetzige Präsident, Martin Maria Krüger, im Präsidium deutlich gemacht, nicht mehr antreten zu wollen. Seine lange Amtszeit von 18 Jahren und 8 Monaten, sein Lebensalter und sicher auch sein verständlicher Wunsch, als Präsident eines erfolgreichen Unternehmens im Zenit abgehen zu wollen und nicht am Amt zu kleben, waren nachvollziehbare Gründe für diese Haltung. Als geeignete Nachfolgerin hatte Krüger seine Vizepräsidentin Ulrike Liedtke (SPD) vorgesehen. Diese steht aber nach der Übernahme des Amtes als Präsidentin im Brandenburger Landtag vermutlich nicht zur Verfügung.
Was tun? Ein Offener Brief von Rüdiger Grambow, Ehrenmitglied des DMR, sowie von 27 Mitunterzeichnern – darunter prominente Künstler wie Peter Gülke, Christoph Poppen und Lothar Zagrosek – an Präsident Krüger mit der Bitte, sich erneut für eine weitere Amtsperiode zur Verfügung zu stellen, ermöglichte den gesichtswahrenden Meinungsumschwung: „Wir – die Unterzeichnenden – möchten Sie mit diesem offenen Brief ausdrücklich darum bitten und dazu aufrufen, sich für die im Oktober 2021 beginnende nächste Amtsperiode erneut als Kandidat für das Präsidentenamt der DMR zur Verfügung zu stellen.“ (Brief vom 5. Oktober 2020 unter www.nmz.de)
Unterzeichnet haben den Offenen Brief nicht einmal ein Drittel der Mitglieder des DMR, darunter allerdings einige Persönlichkeiten, denen durchaus Ambitionen aufs höchste Amt des bundesdeutschen Musiklebens zuzutrauen gewesen wären. Schwarz auf weiß kann es nun jeder lesen: Martin Maria Krüger Krüger steht wieder zur Verfügung. Aber wer will, wer kann denn jetzt überhaupt noch gegen den Amtsinhaber antreten? Diese Frage bewog sicher auch den damaligen Präsidenten des Bayerischen Musikrats, Thomas Goppel dazu, seinem Duzfreund Martin Maria Krüger zu raten, „eine vierte Kandidatur zu hinterfragen“ (Brief vom 16.10.2020 unter www.nmz.de).
Überraschend starker Gegenwind also aus dem Süden Deutschlands: Bemerkenswert auch deshalb, weil Krüger lange als Goppels Schützling galt. Goppel ging im Übrigen mit gutem Beispiel voran: Er hat Ende 2020 nach 12 Jahren sein Amt als Präsident des Bayerischen Musikrats an Marcel Huber, MdL und Staatsminister a.D., weitergegeben. Darüber, welche Absichten die Protagonisten verfolgen, kann man derzeit nur spekulieren. Will Thomas Goppel selbst den Hut in den Ring werfen? Stellt Martin Maria Krüger sich mit seiner Zusage für eine Art Bereitstellungskandidatur zur Verfügung, bis Landtagspräsidentinnen oder gar ein Generalsekretär frei werden fürs Ehrenamt? Oder gibt es keine Alternative zum jetzigen Präsidenten, und der Schachzug Grambows ist Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit beim Musikrat, weil in der Ägide Krüger keine Nachfolge aufgebaut wurde und man sich jetzt Zeit verschaffen will, in Ruhe jemand geeigneten zu finden? Denn das Pflichtenheft eines Präsidenten ist umfangreich. Er muss Vieles sein: Geldbeschaffer, kulturpolitischer Wadenbeißer, Chefdiplomat, manchmal Sonntagsredner, Visionär, Innovator, ein Bewahrer des heiligen Feuers und nicht zuletzt ein Pragmatiker, der den Kontakt zu den Bedürfnissen der Mitglieder nicht verliert.
Auch wenn Thomas Goppel schreibt, dass stimmberechtigte Mitgliedsverbände derzeit nicht rebellieren, so dringt aus den Reihen des Musikrats und seiner Projekte auch vor dieser Präsidiumswahl manche kritische Stimme an die Öffentlichkeit. Hinter manchmal noch vorgehaltener Hand wird ein „Durchregieren“, vorbei an den Gremien wie Aufsichtsrat, Präsidium, Beiräte und Länderkonferenz, moniert. Scheinbar erfolgreiche Förderstrukturen werden hinterfragt: Im Süden Deutschlands raunt man, dass beinahe die Hälfte aller Fördermittel des seit 2017 erfolgreich arbeitenden und inzwischen mit zwei Millionen Euro Fördersumme ausgestatteten Musikfonds im Wesentlichen in zwei Bundesländer fließen, nach Berlin und Nordrhein-Westfalen. Auch die Einbindung des Musikrats mit immerhin vier Millionen Euro in das Programm „Neustart Kultur“ von Bundeskulturministerin Monika Grütters stößt außerhalb der Zuwendungsempfänger, den Mitgliedern der SOMM (Society of Music Merchants e.V.), nicht nur auf Gegenliebe.
Nach der Insolvenz im Jahr 2002 hat sich der neu strukturierte Musikrat mit Verein und gGmbH als stabiles, handlungs- und wandlungsfähiges Konstrukt erwiesen. Umso drängender die Frage, welche Persönlichkeit die Mitglieder jetzt – in einer Zeit der Corona–Umschalte – an die Spitze des Musikrats wählen. Nach einem Jahr Pandemie, ausfallenden Konzerten und Wettbewerben sprechen viele Indizien dafür, dass Kunst und Kultur die Corona-Zeche bezahlen sollen und mancher Kulturpolitiker spricht nicht länger von Kulturförderung, sondern von kultureller Transformation und Neuanfang. Ein Euphemismus für die Abschaffung der öffentlichen Kulturförderung wie wir sie kennen. Hoffentlich verhallt die Mahnung von Musikratsgeneralsekretär Christian Höppner bezüglich der Kulturausgaben nicht ungehört: „Die Situation ist so dramatisch, dass alles, was nicht gesetzlich abgesichert ist, entweder komplett gestrichen oder stark gekürzt werden wird.“ (aus dem Interview mit nmz-Herausgeberin Barbara Haack auf Seite 25).
Schließlich: Ist der Musikrat eigentlich ein demokratisch strukturierter Kulturverband? Legitimiert durch stimmberechtigte Mitglieder? Oder ein ehrenwerter Lobbyposten-Verschiebe-Bahnhof? Wahl frei.
- Alle zitierten Briefe im vollen Wortlaut