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Barbara Hannigan als „Lulu“ in Brüssel. Foto: Hofmann - La Monnaie / De Munt
Barbara Hannigan als „Lulu“ in Brüssel. Foto: Hofmann - La Monnaie / De Munt
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In Brüssel wird der Erdgeist freigesetzt: Krzysztof Warlikowski inszeniert Bergs „Lulu“ am Théâtre de la Monnaie

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Lulu will, darf und kann nicht sterben. Unlängst präsentierte die Komische Oper Berlin eine grundlegende Neufassung von Alban Bergs unvollendet gebliebener Oper – Olga Neuwirth hatte eine weitgehende Neubearbeitung, eine Über- und Fortschreibung des auf Frank Wedekinds Dramen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ gestützten Torsos angefertigt. Der eingebürgerten Traditionslinie folgend versuchte man es in Brüssel nun aber in der Hauptsache wieder mit der von Friedrich Cerha in den 60er- und 70er-Jahren komplettierten dreiaktigen Version, die allerdings diesmal gleich zu Beginn durch eine deklamierte Erweiterung bearbeitet und in die so manche Pause für stumme Choreographie eingelagert wurde.

Die Cerha-Fassung gelangte – und in diesem Sinn verhält sich die Produktion am Théâtre de la Monnaie „konservativ“ – seit ihrer ersten Präsentation im Palais Garnier 1979 in Paris bei den meisten neueren „Lulu“-Produktionen zum Einsatz. Andere Bearbeitungen auf der Basis des zweiaktigen Fragments oder mit einem neu ergänztem dritten Akt (Eberhard Kloke) erweisen sich bislang nicht als nachhaltig. In der Hauptsache rezipierte das internationale Opernpublikum das einst als bahnbrechend modern empfundene Werk, in dem das Aroma des Fin de siècle und der konstruktiv moderne Geist der 20er- und 30er-Jahre zusammenfanden, in den letzten Jahrzehnten als eines der bedeutendsten Dokumente des musikalischen Expressionismus. An der Belgischen Nationaloper sprang für den Dirigenten Lothar Koenigs, der sich bei einem Unfall vier Rippen brach, kurzfristig Paul Daniel ein – er führte die Produktion mit einer bestechend transparenten, sorgfältig zwischen den konstruktiven und den „dampfenden“ Momenten austarierten Interpretation zum umjubelten Erfolg.

An dem hat auch Krzysztof Warlikowski gebührenden Anteil. Der polnische Regisseur ist ein Zeremonienmeister der aufreizenden Körper und der illustren Oberflächen – aber das mit Tiefgang. Das Wort hat für ihn nur im Kontext mit der Musik Belang: Von den für das Werk als Ganzes durchaus konstitutiven Wedekind-Dramen spricht er nur fahrig und betont mit Herablassung die Zeitbedingtheit des Autors. Tatsächlich scheinen ihm wohl einige Hieb- und Stichworte zu genügen, um auf der Bühne das zu entfalten, um dessentwillen er gegenwärtig als einer der „gefragtesten Regisseure“ gehandelt wird. Für einen solchen Marktwert auch ein gewisses Maß an Eigenwilligkeit geboten. Warlikowski ergänzte den Prolog, der ihm bezüglich Eva, Schlange und Sündenfall womöglich nicht hinreichend deutlich war. Er fügte eine Zusammenfassung der Überlieferung zu Adam und dessen erster Frau ein – zu Lilith, die es vorzieht, beim Herrn der Schöpfung aus- und ins tiefste Erdreich einzuziehen. Dazu lässt der polnische Theatermann einen schönen Knaben tanzen und seine Ausstatterin Malgorzata Szczęśniak eine große Glasvitrine zeigen und den durchsichtigen Kasten als Bestiarium bestücken. Sehr dekorativ. Es dient später dem kurzfristig überbewerteten Maler als Atelier. Dahinter ein glitzernder Vorhang, dessen Farbunterschiede die jeweiligen Ortswechsel signalisieren. Und hinter der großen Gardine ein Treppenaufgang mit stillgelegten Rolltreppen-Teilen.

Indem der Zirkus-Adlatus August die Schlange bringen soll, wird ein etwa zehnjähriges Mädchen („süße Unschuld“) im Ballett-Tütü aufgeboten. Von da an ist eigentlich klar, dass „Lulu“ auch die Geschichte von Kindesmissbrauch ist. Die Brüsseler Inszenierung lässt wenig Zweifel aufkommen, dass das ganze Unheil von daher seinen Ausgangspunkt nahm. Doch Warlikowski beschäftigt auch des Weiteren noch ein ganzes Rudel immer wieder auch Ballett tanzender (oder nur gebannt dem Treiben der Erwachsen zuschauender) Kinder – bis zum bittern Ende der Gräfin Geschwitz und ihrer großen Liebe Lulu.

Die gewinnt durch Barbara Hannigan nicht nur eine fulminante Gestalt und eine des Spitzentanzes kundige Darstellerin, sondern auch eine in der Höhe überragende Stimme. In den Mittellagen deckt das insgesamt klug disponierte und immer wieder auch angemessen gezügelte Orchester unter Leitung des vorzüglichen Berg-Kenners Paul Daniel mitunter etwas zu. Insgesamt aber ergibt sich aus dem Wechselspiel des hoch differenzierten Instrumentalsatzes und der durchtrainierten, zunächst sehr knapp bekleidet auftretenden Protagonisten ein singuläres Theaterereignis. Barbara Hannigan verkörpert einen „Erdgeist“, der in unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen unterschiedliche MenschInnengestalt annimmt: Das Feinste dessen, was der Büchse der Pandora entschlüpfte. Aber das vorübergehend Domestizierte erweist sich im Kern wie an der verführerischen Oberfläche als ganz „unfein“. Die Frage des Malers an seine „Eva“, ob sie denn eine Seele habe, ist ebensowenig bloß rhetorisch wie die Fehleinschätzung des Dr. Schön, der Lulu seinen Revolver aushändigt, damit sie ihrem „ehrlosen“ Leben ein Ende bereite – und diese „noble“ Geste mit dem eigenen Leben bezahlt.

Der Regisseur Warlikowski demonstriert, gleichsam in stets etwas zu großen Lettern, Michel Houllebecqs überspitzte These, nach der die Sexualität die eigentliche Währung der Gegenwart sei. Hannigan, das fortdauernd begehrte Subjekt, findet in Tom Randle, dem Maler, und insbesondere in Dietrich Henschel, dem Chefredaktor Dr. Schön, souverän singende Partner, die auch von den gut gebauten Körpern her zu ihr passen. Ein Altersunterschied zwischen diesem Machtmenschen Ludwig Schön und seinem Sohn Alwa, dem Komponisten (dem Berg selbstironisch eigene Züge verlieh) ist nicht erkennbar. So sind sie in Brüssel nun Brüder im Geist und Fleisch. Was freilich auch irgendwie plausibel erscheint.

Man mag manches an der neuen belgischen „Lulu“ für überfrachtet halten (z.B. die Auftritte des tanzenden Lulu-Doubles). Insgesamt handelt es sich um eine Produktion am oberen Rand des obersten Segments des europäischen Musiktheaters. Wobei die ersten beiden Akte spannungsreicher und in sich stimmiger gerieten als der nachkomponierte dritte, der Lulus Flucht aus Wien, ihren Abstieg in Paris und ihr trostloses Finale unter den Händen von Jack the Ripper in London vor Augen und Ohren führt.

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