Witten – das ist das Festival, das seine konkrete Utopie im Namen führt. Und sich doch nicht selten so gibt, als hätte es vergessen, worauf sich sein Glücksversprechen gründet. So wie der erwachsene Mensch zuweilen verlegen lächeln muss, wenn er an seinen Taufspruch erinnert wird. Der für Witten eine Musiziertradition darstellt, über die eine experimentell ausgerichtete Avantgarde eigentlich längst glaubte hinausgekommen zu sein. Kammermusik nämlich (und nichts anderes ist der Taufspruch für Witten) war ja immer schon mehr als eine bloße Auskunft über Besetzungsgrößen („zwei bis neun Spieler“), über Aufführungsorte („kleine bis mittelgroße Räume“) und auch mehr als die praktische Folgerung aus gewissen satztechnischen Notwendigeiten der durchbrochenen Arbeit. All dies spielt hinein und trifft doch nicht das Zauberwort.
Sagen wir so: Der „Instrumentalklang als Nachricht seiner Hervorbringung“ (Helmut Lachenmann) unterstellt bestimmte Dispositionen zwischen denjenigen, die hervorbringen und denjenigen, die Nachrichten empfangen. Was technisch klingt, es auch ist, zugleich übers bloß Technische hinausgeht. Denn die Nähe, von der da die Rede ist und die im und fürs Kammermusizieren konstitutiv ist, mit Sichtbarkeit, Greifbarkeit, Intimität, impliziert eine klassische Unschärferelation. Man kann nicht ins System eingreifen, ohne es zu stören. Selbst dann nicht, wenn es in bester Absicht geschieht wie beim übertragenen Kammermusik-Konzert. Walter Benjamin hat diese schöne Zwickmühle im Kunstwerkaufsatz an der Aura durchgespielt. Demnach bringt es noch jede Reproduktionstechnik mit sich, dass dem Kunstwerk sein Hier und Jetzt, seine Einmaligkeit ausgetrieben wird. Heißt übertragen: Die Übertragung des „Instrumentalklangs“ für alle trennt denselben Klang von der „Nachricht seiner Hervorbringung“. Was Gewinn und Verlust ziemlich gleichmäßig aufteilt. Nur, Radio geht bekanntlich nicht anders.
Um so überraschender war es, dass die zurückliegende Witten-Ausgabe ausgerechnet mit dem Film eine andere Reproduktionstechnik aufs Tableau brachte, die für den beschriebenen Verlust ein wirkliches Kompensationsangebot bereit hielt. Eines, an dem einem ganz nebenbei noch einmal vorgeführt wurde, dass der Benjaminsche Film zertrümmert Aura vielleicht doch etwas zu holzschnittartig daherkommt. Nichts, vor allem nicht in der Kunst, ist in Stein gemeißelt; mechanische Ableitungen laufen ins Leere. Worauf es vielmehr ankommt – und dies erfuhren wir bezeichnenderweise in einer „Musikkammer mit Bildzuspielungen“ – ist noch immer das Auge, das durchs Objektiv schaut. Unter der Voraussetzung, dass es ein (kammer-)musikliebendes ist, hat dies unter Umständen recht sichtbare Folgen. Auf einmal war sie nämlich wieder da – die „Nachricht“ von der „Hervorbringung“ des Instrumentalklangs. Für ein Kammermusik-Festival eigentlich keine schlechte Nachricht. Da ist noch mehr drin, hatte man das Gefühl.
Zu den Konzerten
Witten jubelt. So gut wie an allen Stellen und, mehr oder minder, bei jeder Gelegenheit. Sicher, die Ausführung bewegte sich durch die Bank auf einem fantastischen Niveau. Verantwortlich für den guten Ton alte Witten-Bekannte wie ensemble recherche und ascolta, dazu neue und neuere wie das Hamburger Trio Catch, die französischen IRCAM-Formationen L‘Instant Donné und Exaudi sowie die vier famosen Streicher von Quatuor Diotima. Jedes für sich ein Glücksfall, was ablesbar war nicht zuletzt an den strahlenden Gesichtern der Komponisten. Wie sie ihre Interpreten in die Arme schlossen, herzten, abküssten lieferte wohl die unverstelltesten Bilder dieser Wittener Tage. Was klar ist, wenn alles nach wochen-, monate-, zum Teil jahrelanger Vorbereitung, Vorarbeit Note für Note zu Gehör, glücklich auf den Punkt gebracht ist: Fürs Streichquartett „Buch“ notierte Enno Poppe 2013–2016, für „Apollon et les continents, d’apres Tiepolo“ Hugues Dufourt die ehrfurchtgebietende Spanne 2004–2016 und ebenfalls drei Jahre, 2007–2010, forderte der Zyklus „Cantate égale pays“ von Gérard Pesson.
Letzterer erschien als diesjähriger Witten-composer in residence gleich an mehreren Stellen des Programms. Im Ergebnis gab’s eine kleine Werkschau mit höchst instruktivem Blick auf den frühen Pesson der 1990erJahre, auf den Komponisten der kleinen Formen, der gut ausgehörten Miniaturen. ensemble recherche rief dessen „Bagatellen“ ins Gedächtnis, die amüsant-vorbeihuschenden „Recréations francaises“, dazu das eher ernste Tombeau-Stück „Fureur contre informe“. Im Werkstattgespräch brachte Pesson das Bild von der „Rückseite des Klangs“ ins Spiel. „Le compositeur vit avec le son“, der Komponist lebt mit dem Klang und, so fügte er später hinzu, er arbeitet an ihm. So einfach ließ sich das sagen und an seiner 2016 entstandenen „Catch-Sonate“ fürs Trio Catch auch hören. Viel sublimer Witz darin, jede Menge Raffinesse, mit der Pesson die Klänge von Klarinette, Cello, Klavier sich angleichen ließ: Witten mit einem Duft von Paris. Eine Eleganz, die Pessons großer Abendfüller „Cantate égale pays“ dann doch weitgehend vermissen ließ. Das traumwandlerisch sichere Vokalensemble Exaudi musste mikroportiert auftreten, blieb kopfstimmig blass. Und so sehr Pesson auch blumige Worte fand für die Elektronik, mit der er L‘Instant Donné eingehüllt hatte („Klaviatur der Empfindungen“) – was nützt es, wenn die Verstärkung unbalanciert ist, wenn gesampelte Umweltgeräusche permanent ablenken? Was Pesson in seinen frühen Vokalminiaturen, in „Écrit à Qinzhou“ über Gedichte von Du Fu so wunderbar gelungen war, Kolorit, Esprit zu verbreiten – sein jetzt vorgestellter Zyklus von Großkantaten, technisch aufgerüstet, in den Proportionen aufgebläht, gleich mit drei ambitionierten Dichtungen, hatte einfach zuviel Eigengewicht als dass er Auftrieb unter den Flügeln spüren konnte. Gejubelt ward trotzdem.
Psychologie eines Festivals
Was die Permanent-Hochstimmung betrifft, sollte der psychologische Faktor freilich nicht unterschätzt werden insofern eine nun mehr oder weniger marginalisierte Kunstgemeinde sich hier tatsächlich für ein Wochenende ins Zentrum der Öffentlichkeit gerückt sehen konnte. Wofür zunächst die über den Stadtraum verteilten Spielstätten sorgten; angefangen beim städtischen Saalbau mit zwei tadellosen Konzertsälen, gefolgt von zwei Schulaulen, leergeräumten Geschäften, einem Rathausturm und sogar noch dem Versammlungsraum einer Freikirchlichen Gemeinde – die neue Kammermusik ist präsent in Witten. Letztlich ausschlaggebend fürs Wittener Fest- und Sonntagsgefühl war aber auch in der zurückliegenden Ausgabe einmal mehr der Ehrgeiz, mit dem der Hauptveranstalter Westdeutscher Rundfunk sein ganz großes Besteck ausgebreitet hatte. Wo eine neue Musik (egal ob mit kleinem oder großem N geschrieben) im Konzert- wie im Rundfunksenderalltag mehr und mehr an die Peripherie gedrängt scheint, so dass sie nicht selten glaubt, sich mittels kreischender Programmideen, durchsichtiger Vermittlungsofferten anbiedernd ins Spiel bringen zu müssen – in Witten war und ist (noch) alles anders. Die Musik darf ganz Musik sein, das Konzert ausschließlich Konzert. Mätzchen, Verrenkungen wurden auch heuer erfolgreich gebeten, für dieses eine Wochende draußen zu bleiben. Schon großartig, wie WDR 3 das Ereignis Wittener Tage für neue Kammermusik mit einem Paket aus zeitversetzten und Live-Übertragungen abbildete, um es eben so zu adeln. Mehr Öffentlichkeit geht nicht. Was die Laune ausgesprochen hob, wie eine kleine Anekdote illustriert. Als ein Veranstaltungsort umständehalber in einer Konzertpause vorzeitig verlassen werden musste, zeigte sich ein aus Österreich angereister Besucher ganz entzückt, als das unterbrochene Konzert im Autoradio weiterging. Nein, so kenne er das aus seinem Wien nicht! Aha.
Wobei Witten und die Witten-Programmatik, so wie sie sich über die Jahre eingependelt hat, sich ja nun doch keineswegs dem ehernen Willen verdankt, auf Teufel komm raus zu überraschen, eher doch dem, zu bestätigen, Kontinuitäten hochzuhalten. Witten, das ist der Struktur nach ein fein austariertes Mobile aus „Dialog“-, „Porträt“-, „Newcomer“- und regulären oder eigentlichen Haupt-Konzerten. Gewichtung als Charakteristikum, von Kurator Harry Vogt über die Jahre variiert, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Konzertformate, die der komponierten Musik vorbehalten bleiben, wohingegen das Performativ-Installative lebt und webt im, sagen wir: Vorräumlichen. Eine auf Entmischung setzende Handschrift, deren programmatische Stringenz sicher auch damit zu tun hat, dass so manches nicht abgebildet wird. Umgekehrt ist einiges gehörig in Bewegung geraten, was am Ende auch in diese jüngste Witten-Ausgabe hineingespielt hat. Das Übergreifen von Musik in die Nachbarkünste, in eine ihrerseits facettenreich-ausmäandernde Bildende Kunst, das Eintreten von Visuellem in den Hör- und Partiturraum – solche Tendenzen warfen ein markantes Streulicht auch auf den Wittener Kunsthimmel Ausgabe 2016. Eigentümlicherweise (und das war vielleicht das Spannendste) nicht nur in den dafür vorgesehenen Spielecken.
Kontrolle - Kontrollverlust
In einer hatte Brigitta Muntendorf ihre in Neonlicht getauchte „audiovisuelle Überwachungsskulptur“ eingerichtet. Installatives, Performatives, Komponiertes unvermischt und ungetrennt, wenn im betoncharmanten Treppenhaus des Wittener Rathausturms kreisende Kamera-Insekten den Besucher ins Visier nahmen und einen Konnotationsraum evozierten aus bekannten stadträumlichen Gefahrenzonen, so dass ein Monitor (man hielt kurz den Atem an) tatsächlich eine Vergewaltigung auf einem nächtlichen Bahnsteig protokollierte. Im nächsten Moment kam die Entwarnung in akustischer Gestalt gleich hinterher. Das sonnenbebrillte, in partielles Latex gehüllte Muntendorf-Ensemble beschallte das Turminnere mit recht zahnlosen „live pop-ups“. Botschaft: Mit allem, auch mit dem Ernst, lässt sich spielen. Dabei transportieren noch die Namen, die derartige Performances tragen – „Public Privacy #shift_ctrl“ – die unterschwellige Faszination am vorgeführten Schrecken: So böse die Überwachung ist – das Material, das sie kreiert, nötigt Respekt ab.
Andererseits: Die Grenzen zwischen Komponiertem und Performativem sind ja nun längst nicht mehr so trennscharf wie dies die Differenz von ehrwürdigen Saalbau-Konzerten hier und schräger „Public Privacy“-Performance dort suggerierte. Gleich an mehreren Festival-Schnittstellen ließ es sich studieren. Am deutlichsten vielleicht am mehrteiligen Ensemblewerk „Apollon et les continents, d’après Tiepolo“ von Hugues Dufourt. Mit diesem anderthalbstündigen opus magnum, ausgeführt von einem perkussionszentrierten ensemble recherche, hatte es ausgerechnet eine Komposition ins Hauptprogramm des Festivals geschafft, die sich ausdrücklich einer performativen Erfahrung verdankt, vom Programmbuch wie vom Komponisten genau so beschrieben. Dass Tiepolos Deckenfresko in der Würzburger Residenz über der Ehrentreppe von Balthasar Neumann einen Betrachter in Bewegung erfordert, ist Ausgangspunkt und Ansatz von Dufourt. Dessen klangflächenkompositorischer Ensemblesatz hatte denn auch viel Ähnlichkeit mit einer hörbar gemachten Fahrt mit der Drohnenkamera übers Bildprogramm. Die Musik selbst kam daher in der Mode vergangener modern times, durchaus stolz mit hochgeschlagenem Mantelkragen. Bis auf den meditativen asiatischen Teil markierte dieser klingende Tiepolo das Breitbild-Format im (eigentlich gar nicht so) geheimen Witten-Thema Film/Bild/Cineastisches – lautstark beklatscht nach geglückter Uraufführung des jetzt komplettierten Zyklus.
Musik/Film/Cineastisches
Wie begegnet ein Komponist der Falle des freiwillig-unfreiwillig Illustrativen? Am besten, indem er der Gefahr unerschrocken ins Auge schaut, wird sich Johannes Kalitzke gesagt haben. Fürs Genre Neukomponierte Begleitmusiken zu Stummfilmen hat er ja mittlerweile eine regelrechte Passion entwickelt. Am Pult vor einem erweiterten, auch klanglich vielfältig nachgerüsteten Ensemble Ascolta leitete Kalitzke mit der Präzision eines Uhrwerks durch seine bewegte 80-Minuten-Partitur zu Arthur Robisons „Schatten“.
Der restauriert-rekonstruierte Stummfilm aus dem Jahr 1923 mit einer Garde berühmter Darsteller um die jungen Fritz Kortner und Alexander Granach evoziert ein Fantasy-Drama um männliche Eifersucht und weibliche Verführungslust. Ein Plot, der heute spürbare Längen hat, wogegen sich Kalitzke zur Wehr setzte mit einem pulsierenden Orchestersatz, den er selber mit einem Karussell verglich, auf dem die Gäste während der Fahrt pausenlos die Pferde wechseln. Gegen die Voraussehbarkeit auf der Leinwand stellte der Komponist den Willen zur permanenten Durcharbeitung der Parcours- respektive Partitur-Verhältnisse. Das Ergebnis dürfte seine Zukunft insofern noch vor sich haben, als sich davon ja nicht nur die Filmfreunde unter den Musikliebhabern, sondern auch die Musikfreunde unter den Cineasten angesprochen fühlen könnten.
Musik und Film, Film und Musik – ein höchst reaktionsfreudiges Gemisch, das überzeugend Gestalt gewann in der ebenfalls im Rahmenprogramm gezeigten, von so manchen Witten-Pilgerern übersehenen Installation „Musikkammer mit Bildzuspielungen“. Die Location ein leer geräumtes Innenstadt-Geschäft, darin, wie die Perle im Muschel-Einheitsgrau, ein liebevoll hergerichteter Musiksalon. In Retro-Sesseln, auf dem Sofa zu einer Tasse Tee, folgte man filmisch zugespielten Ensembleproben dreier aktueller Witten-Konzerte. Für einige beglückende Minuten durfte man so dabei sein, wie Komponisten chez soi, im heimischen Interieur zusammen mit ihren Solisten, Instrumentalisten am Stück arbeiten. Vergangenheit und Gegenwart rückten so auf einmal ganz nah zusammen; man traf sie ja alle wieder auf den Witten-Podien: Trio Catch mit Gérard Pesson, L’Instant Donné mit Mikel Urquiza und auch den famosen Multi-Bläser Paul Hübner mit Adriana Hölszky.
Musikkammer
Aumüllers Kamera in diesen Einstellungen die Ruhe selbst. Nichts, was sich dazwischen setzen konnte, wodurch sich indes etwas anderes einstellte, was dem Konzertbesucher in der Regel vorenthalten bleibt: das allmähliche Verfertigen der Musik-Gedanken beim Proben. Aumüllers „Intimität des Augenblicks“ setzte solcher Liebe zur Kunst ein ganz zauberhaftes Denkmal – an die Peripherie platziert, aber mit Wirkung ins Zentrum. Worin ganz nebenbei ein anderes Dauerthema berührt wurde, das nicht nur in und für Witten relevant ist, das Bündnis nämlich, das Komponisten mit ihren Interpreten und diese mit jenen schließen, bekanntlich der Grund, auf dem alles ruht und der übers Schicksal der Werke entscheidet – sofern die Chemie stimmt, sofern die Proben hinsichtlich der Atmosphäre freundlich, nach dem Kunsteifer betrachtet mit insistierendem Ernst verlaufen. Dann, aber auch nur dann, spürt man es auch im Konzert. Etwa den bissigen Eifer von Quatour Diotima für Poppes „Buch“, sein entfernt Beethoven- wie Berg-Allusionen weckendes erstes Streichquartett, ferner die liebevolle Hinwendung von Tabea Zimmermann fürs Bratschen-Solo-Stück der jungen Birke Bertelsmeier, behutsam abgetas-tet in den wiederkehrenden, nicht unterzukriegenden Gesten, die die Komponistin setzte.
Den Titel „Von Kopf durch Kopf zu Kopf“ las man dabei so als hätte sie sagen wollen: Das sind wir. Keine Frage, so ist das. Nur, dass man doch gern ergänzen möchte: und zu Herzen. Wo Musik am Ende doch immer hinaus will.