„Carmen“ – die „spanische“ Oper par excellence im Renaissance-Schlosshof zu Weikersheim. Was kann an einem viel gespielten Werk neu faszinieren, und zwar im Sinne der Jeunesses Musicales? Um es gleich zu sagen: immer und immer wieder die kreative Kraft junger Talente. Carolyn Sittig ist so ein Glücksfall. Sie studierte Musiktheaterregie in Hamburg bei Götz Friedrich, inszenierte nach Assistenzen bei Harry Kupfer, John Dew und Jean-Pierre Ponnelle unter anderem Salieris „Prima la Musica“ in Dresden, den „Freischütz“ bei den Schlossfestspielen Zwingenberg und Rossinis „Barbier von Sevilla“ in Bremen. Sie ist Stipendiatin der Akademie Schloss Solitude. Weikersheim ist Herausforderung und Chance zugleich, frei von den Zwängen eines Hauses mit begeisterten, kongenialen jungen Kolleginnen und Kollegen einen großen Opernstoff neu zu beleuchten.
Überzeitlich und universell wird ihre Weikersheimer „Carmen“, historische wie heutige Elemente in sich vereinend. Spanien ist überall, ist nur eine besonders luzide Folie für das ewige und ewig neue Thema Liebe in all seinen Facetten und Extremen bis hin zu den Grenzen von Leben und Tod. Ihre „Carmen“ könnte eher „Don José“ heißen, denn an dieser Figur werden alle Beziehungen reflektiert. Dies eröffnet völlig neue Perspektiven, auch auf die Nebengestalten der Oper. Wenn Micaela in der Handlung nie wirklich auf Carmen trifft, ist sie dann die Nebenbuhlerin – oder eine andere Idealprojektion Don Josés, eine andere Form der Liebe? Dennoch haben die auftretenden Gestalten ihre eigene Realität, ihr eigenes Tun und Wollen, was eine zusätzliche Spannungsebene gegen die Idealprojektionen des Don José schafft. Auch dem Chor fällt in Sit- tigs Auffassung eine neue Rolle zu: Fern lediglich simpler Illustration von Genreszenen wird er durch originäre Funktionen der attischen Tragödie aufgewertet, kommentiert die Handlung, schärft das Profil einzelner Charaktere. Auch das komische Element kommt in den Figuren des Dancairo und des Remendado zu seinem Recht. Sittigs Inszenierung strebt auf den Stierkampf als Höhepunkt und Schlüsselszene der Dramaturgie zu. In ihm versinnlicht sich die Dialektik von Rausch, Freude, Sieg, Neubeginn und Tod, die Katastrophe als opulent ausgestattete Symbolik für die Themen der Handlung. So wird auch der Zuschauer zu seinem Recht kommen, denn die in die Inszenierung einkomponierte Rezeptiongeschichte des Werkes erlaubt die von Regina Rösing gestalteten Kostümwechsel verschiedener Epochen bis hin zur vielsagenden Erfüllung herkömmlicher Carmen-Klischees. Das klar, beinahe reduktionistisch konzipierte Bühnenbild von Sonja Welp behauptet sich grandios vor der erhabenen Kulisse der Weikersheimer Schlossfassaden, zwingt den Blick in eine großartige Landschaft mit Räumen für Realität und Idealwelt, zeigt „Arena“ ebenso wie „Bruch“ und „Reflexion“, weist den Charakteren und der Masse des Chores identifizierbare Positionen zu und bietet selbst genügend Möglichkeiten der Verwandlung. Für sommerliche Festivalbesucher lohnt sich also Ende Juli der Weg nach Weikersheim – auch Bayreuth- oder Bregenzreisende finden hier das Besondere: Junge, kreative Oper auf internationalem Qualitätsniveau unter Gesamtleitung von Yakov Kreizberg.