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Kultur – versteinert im Angesicht der Natur.  Foto: Martin Hufner
Kultur – versteinert im Angesicht der Natur. Foto: Martin Hufner
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Chancen in bedrückender Stille

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Das Verstummen des Musiklebens und die Hoffnung auf die Zeit danach · Von Moritz Eggert
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Die großen von Menschen verursachten Katastrophen der Vergangenheit haben immer wieder auch Kultur zeitweise zum Verstummen gebracht. Doch selbst in den unmenschlichsten Situationen des Kriegs oder der Hungersnot fanden Menschen zusammen, um gemeinsam zu musizieren oder zu singen.

Angesichts der globalen Covid-19-Epidemie findet aber zum ers­ten Mal etwas statt, das wir alle bisher nicht kannten: das völlige Verstummen des Musiklebens. Nun eine Zeitung zu lesen, die ausschließlich diesem musikalischen Leben gewidmet ist, mag eine fast surreale Erfahrung sein. Viele von uns überwältigt die Erkenntnis, die Dinge nicht mehr in der Hand zu haben. Die Entscheidungen über unser tägliches Leben wurden uns größtenteils abgenommen. Die Pandemie ist dynamisch und fordert vor allem Reaktion, solange es kein Heilmittel gibt. Jeder Tag bringt eine Flut von Nachrichten, manche davon gelegentlich hoffnungsvoll, aber in ihrer Gänze von nie gekannter Bedrohlichkeit. Wir erleben, dass die gesamte Welt schrittweise in den Shutdown geht, auch in anderen Ländern das Konzertleben zum völligen Erliegen kommt.

In den sozialen Medien gibt es unzählige Meinungen über den Umgang mit der Pandemie. Manche, die vormals eher als Musiker galten, mutieren plötzlich ohne jegliche Ausbildung zu „Experten“ für Seuchenmanagement und Virologie, posten wildeste Theorien, diffuse Verschwörungsposts oder behaupten plötzlich, exakte Statements über den Krisenverlauf abgeben zu können – was keiner der wirklichen Fachleute wagen würde. Bei anderen bricht der unverhohlene Sozialneid gegenüber denjenigen aus, die weniger als sie von finanziellen Schäden betroffen sind. Andere fürchten sich lautstark vor den längerfristigen Auswirkungen einer Wirtschaftskrise und der zu erwartenden Inflation.

Verlieren wir gerade die Vernunft und unsere demokratischen Werte? Ist der Schritt von einer Ausgangssperre zu einer freiheitsfeindlichen Diktatur absehbar? Droht uns die komplette Auslöschung des kulturellen Lebens in Deutschland? Die drängendste Frage für die meisten dürfte sein, wann sie wieder als Musiker*innen arbeiten können, und ob diese Arbeit dann überhaupt noch gefragt ist. Und diese Frage ist sehr ernst, denn sie rührt an die Grundfesten unseres Berufes.

Bei allem Verständnis sind es jedoch genau diese Ängste, die uns im Moment am wenigsten weiterbringen, die uns lähmen, die den Untergang, der keineswegs zwangsläufig resultieren muss, überhaupt erst herbeibeschwören. Auf den zweiten Blick wächst die Hoffnung: Tatsächlich hat man das Gefühl, dass wesentlich mehr Musikerkolleg*innen auf Vernunft und gegenseitigen Beistand setzen als auf Panik und Hysterie. Innerhalb kürzester Zeit gab es in der Mehrheit nicht nur großen Rückhalt und viel Verständnis für die gerade für Musiker einschneidenden aber epidemiologisch notwendigen Maßnahmen, sondern auch zahlreiche konstruktive Initiativen zum Erhalt des kulturellen Lebens, Hilfsaktionen der zahlreichen Berufsverbände und in Zeiten der Isolation wichtige Angebote aufmunternder Zerstreuung: Wohnzimmerkonzerte, Videos, Balkonperformances … Tatsächlich hat man noch nie einen derartigen Zusammenhalt in der Musikszene erlebt, weil das, was vorher selbstverständlich war, es nun nicht mehr ist.

Auch die Bundesregierung hat klare Signale gesetzt, dass sie Selbstständigen helfen und damit auch das Kulturleben erhalten will. Auch wenn viele ungeduldig sind: Diese Maßnahmen dürfen nicht übereilt sein, damit Ungerechtigkeiten vermieden werden. Kritik an diesen Maßnahmen ist wichtig, so lange sie konstruktiv ist. Sich selbst der Nächste zu sein, wird aber nicht helfen, denn wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass nach einer solch einschneidenden und sicherlich weltverändernden Situation alles schnell wieder beim Alten ist. Es wird immense Härten für alle Menschen dieses Landes geben, die manchen kleinen Verteilungskampf in der Vergangenheit wie eine lächerliche Anekdote erscheinen lassen werden. Aber schon jetzt ahnen wir, dass diese Härten nur einen Bruchteil der Härten darstellen werden, die anderen, ärmeren Ländern schon jetzt mit schrecklicher Gewissheit drohen.

Wir mögen momentan zur Stille verdammt sein, aber wenn wir nicht schon jetzt in die Zukunft schauen und vor allem an die Möglichkeit einer solchen Zukunft bedingungslos glauben, dann haben wir diese Zukunft auch nicht verdient. Die jetzige Solidarität und Ko­operation der Musikszene gibt Anlass zur Hoffnung.

Denn in dieser Krise sind alle Musiker*innen gleich, egal welchen Stand sie vorher hatten. Sowohl der Star als auch der noch unbekannte musikalische Nachwuchs muss in diesem Moment schweigen. Covid-19 ist ein großer Gleichmacher, was man auch an der täglich zunehmenden Zahl von infizierten musikalischen Prominenten sieht. Man will es niemandem wünschen, aber wir müssen uns schon jetzt alle darüber klar sein, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass wir im privaten wie auch öffentlichen Umfeld viele geliebte und bewunderte Menschen der Musikszene verlieren könnten. In dieser bedrückenden Gewissheit wird uns vielleicht zunehmend klar, was wichtig war und wichtig bleiben wird. Aber hoffentlich auch das, was nicht so wichtig war und worauf man vielleicht verzichten kann: die vielen Dekadenz­erscheinungen des Musikbetriebs zum Beispiel, den Hype um hohle Pose und Oberflächlichkeiten, die vielen unnötigen Befindlichkeiten, die nichts mit dem eigentlichen Kerngeschäft, nämlich der Musik selbst zu tun haben.

In diesen Zeiten des Schweigens mag es uns trösten, gegenseitig Einblick in die Isolation zu geben, andere per Videoschaltung an unserem Üben und Komponieren teilhaben zu lassen, „Geis­terkonzerte“ zu veranstalten und bei offenem Fenster „Freude schöner Götterfunken“ zu singen. Ich würde aber dafür plädieren, solche Aktionen nicht überzubewerten. Vor allem dürfen wir eines nicht: uns an sie als vollwertigen Ersatz für das vormalige musikalische Leben gewöhnen. Denn dieses ist unersetzlich – das Erlebnis des Livekonzerts, die Opern- oder Orchesteraufführung, Chorgesang, ein Clubkonzert … überall, wo Menschen zum gemeinsamen Musizieren zusammenkommen, entsteht nicht nur musikalisches Leben, sondern Leben an sich. Und dieses Leben werden wir dringender als je zuvor brauchen, wenn eines Tages die Corona-Krise überwunden ist.

Dieser Tag wird kommen, und ich wünsche uns allen, dass wir ihn gemeinsam gesund feiern können. In der momentanen Stille liegt aber die Chance, den wahren Wert von Musik wieder so intensiv und innig zu begreifen, dass wir den sicherlich sehnsüchtigen offenen Ohren und Herzen nach der Krise möglichst authentisch davon erzählen können. Man wird sich dringender als zuvor nach uns sehnen, und darauf sollten wir vertrauen.

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