Amsterdam, Muziekgebouw 29. September. – Volles Haus und ein Publikum, das aus dem Häußchen ist. Stehende Ovationen für einen bewegenden „Coro“, dem großen Bekenntniswerk von Luciano Berio. Lautstark artikulierte Dankbarkeit für die Courage einer grenzüberschreitenden Arbeitsgemeinschaft aus Doelen Ensemble Rotterdam, Capella Amsterdam, notabu.ensemble Düsseldorf. Denn immerhin, soviel wurde am Rande dieses kleinen Berio-Festivals auch klar: Holland ist in Not.
„Very, very bad.“ Wenn Peter-Jan Wagemans, Komponist, Gründer und langjähriger Geschäftsführer des Doelen Ensemble Rotterdam, an die Zukunft denkt, wird ihm selber auch schlecht. Dramatische Kürzungen in den Kulturetats und bei den Zuwendungen durch Stiftungen werden in den kommenden Jahren, da ist er sich sicher, das große Ensemble-Sterben auslösen. Beim Versuch, die Namen derer, die verschwinden werden und die, die voraussichtlich noch werden bleiben dürfen, auf einen Bierdeckel zu schreiben, geht ihm der Platz aus. Auf die rote Liste der bedrohten Ensemble-Arten setzt Wagemans Formationen wie Amstel Saxophone quartet, Insomnia, Nieuw Ensemble, Ives Ensemble, Orkest de Ereprijs, Ensemble Loos, Maarten Altena Ensemble, Mondriaan Stringquartet, Rosa ensemble, Hollands Diep ... Eine Aufzählung, die einen schwindlig macht.
Slagwekgroep Den Haag, Ensemble Calefax, Capella Amsterdam, Netherlands Wind Ensemble and auch das Rotterdamer Doelen Ensemble, so sieht es für Wagemans momentan aus, werden bei massiv gekürzten Subventionen erhalten bleiben. Insgesamt sicherlich eine Horrorliste, die Rückfragen ganz automatisch aufwirft. Beispielsweise die, ob es denn keine Proteste gegeben hat? Doch schon, sagt Wagemans, man sei sogar in spektakuläer Nachtwanderung nach Den Haag gezogen, hätte sich die Finger wund geschrieben und sonstwas angestellt. Letztlich alles umsonst. Und jetzt? Seien die Leute einfach müde.
Kooperation statt Stagnation
Was man von den Musikern beim Berio-Festival Amsterdam nicht sagen kann respektive nicht sagen konnte. Im Gegenteil. In einer Situation, die nun wahrhaft fürs Lamento und fürs Lamentieren gegeignet ist, waren und sind es die Musiker, die sich Mut machen und gemacht haben. Womit? Nicht nur (und das ist das Bemerkenswerte daran), indem höhere Krisenmoral beschworen, indem das rituelle Die-Hoffnung-stirbt-zuletzt hergebetet wird. Vielmehr hat man etwas gemacht, wozu man als ausführender Musiker freilich sowieso verpflichtet und berufen ist: Sich in die Kraft der Werke zu stellen, sich ihrer formbildenden (und damit buchstäblich rettenden) Tendenz anzuvertrauen. Hier geschehen im Fall von Berios 1975/76 entstandenen „Coro“, einem Werk, das seinerzeit die Trennung von Chor- und Orchesterstimmen überwunden hatte.
Indem man sich eingelassen hat auf ein solches Bekenntniswerk, lag natürlich der Kooperationsgedanke auf der Hand. Denn: ein abendfüllendes Mammutwerk für 40 Stimmen und Instrumente mit aufgelösten Chor- und Orchesterformationen und mit der Innovation von lagenmäßig ähnlichen Stimmen- und Instrumentalparts, konnte keines der beteiligten Ensemble allein bewältigen. Was die länderübergreifende Kooperation wie von selbst befördert hat. Das war der Gedanke: Sich formieren, Ensemble-Formations-Gestalt aus den Werken heraus annehmen.
Beklemmung und Schwirren
Was unmittelbar zu spüren war bei den Aufführungen in Rotterdam, Düsseldorf, Amsterdam. In jedem Fall war der Dirigent der deutsch-holländischen Projekt-Formation, war Mark-Andreas Schlingensiepen ein ebenso verlässlicher wie engagierter Leiter. Als hätten sie alle immer schon so zusammen musiziert. Und zwar so so wie es sich Berio nicht hätte besser wünschen können. Musizieren im Kollektiv. Eins, das gleichwohl die Individualität der Stimmen achtet und zur Geltung kommen lässt. Alles möglich geworden durch eine Komposition, die sich selber nicht zu schade war, politisch zu sein, sich zur Geistverwandtschaft mit Pablo Neruda zu bekennen, dessen Tod mit der blutigen Niederschlagung der chilenischen Allende-Demokratie durch Augusto Pinochet im September 1973 zusammenfiel.
Das Bewusstsein für diese Zusammenhänge ist in „Coro“, 1975/76 als Auftragswerk des Westdeutschen Rundfunk entstanden, ebenso lebendig wie dies jetzt beim Amsterdamer Publikum der Fall war.
So unwiederbringlich tot wie die realsozialistischen Phrasen und Kompositions-Schablonen jener Zeit mittlerweile geworden sind, so lebendig, weil aus eigentümlich repetitiver Sprachgestik genährt, zeigte sich dieses Hauptwerk Luciano Berios. Man konnte es hören. Ein Ton zwischen Beklemmung und bumeranghaftem Schwirren. Und, man konnte es übrigens auch nachlesen. Glasklar etwa im Muziekgebouw-Programmheftkommentar, der (anders als das deutsche Pendant) die politische Dimension dieses singulären Konzertabends gerade nicht unterschlagen hat.