Maria Callas hat das Tor zur unbekannten Welt der Belcanto-Musik einst weit aufgestoßen, viele Sänger folgten ihr. Auch ein Countertenor ist dabei: Müssen sich die Mezzosoprane Sorgen machen?
Der argentinische Countertenor Franco Fagioli will sich das Belcanto-Repertoire mit Musik etwa von Rossini erobern, ohne einen Konkurrenzkampf mit Mezzosopranen zu entfachen. „Mein Repertoire wurde von den großartigen Mezzosopranistinnen gesungen und ich habe nicht vor, in irgendeine Art von Wettstreit zu treten“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. „Ich kenne deren Aufnahmen, und ich bewundere zutiefst, was sie machen. Und ich habe viel von ihnen gelernt.“ Er wolle seinen ganz persönlichen Zugang zu Rossini vorstellen und zeigen, dass der Komponist es nie aufgegeben habe, in der Barocktradition zu schreiben.
Frage: Herr Fagioli, Publikum und Kritiker lieben Sie wegen Ihrer Interpretationen vor allem alter Musik. Was ist für Sie Belcanto?
Fagioli: Wenn wir über Belcanto sprechen, dann ist mir wichtig, dass wir nicht nur über das 19. Jahrhundert reden. In Italien entstand Belcanto bereits im 17. und 18. Jahrhundert mit dem Beginn der italienischen Oper und dem „goldenen Zeitalter“ der Kastraten. Vinci, Leo und Porpora, als Komponisten der neapolitanischen Schule, schrieben ihre Opern für die besten Kastraten und Primadonnen ihrer Zeit, für Caffarelli, Farinelli und Senesino.
Frage: Während Ihres Gesangsstudiums haben Sie sich schon mit dem Belcanto-Repertoire befasst – warum eigentlich?
Fagioli: In Argentinien haben wir eine sehr große, aus Italien kommende Operntradition. Daher ist meine Ausbildung auch anders verlaufen als die der Countertenöre in Europa. Mein Stimmfach war zunächst in Argentinien nicht bekannt, auch nicht bei meinen beiden ersten Lehrern – einer Sopranistin und einem Bariton. Ich studierte natürlich Arien von Händel, aber auch Bellini, Donizetti und Rossini, also klassisches Belcanto-Repertoire.
Frage: Gab es ein Vorbild auf dem Weg zum Countertenor? Warum wurden Sie einer?
Fagioli: Als Kind sang ich im Chor und später verkörperte ich einen der drei Knaben in der Zauberflöte. Das hat mich sehr begeistert. Nach dem Stimmbruch konzentrierte ich mich mehr auf mein Klavierstudium. Ich hatte aber nach wie vor eine Höhe im Singen und imitierte zum Spaß Frauen – bis ich eines Tages eine Aufnahme von Pergolesis „Stabat mater“ entdeckte. Die Altpartie wurde von James Bowman gesungen – von einem Mann. Mir ging ein Licht auf und ich entschloss, Countertenor zu werden. Countertenöre und Mezzosoprane teilen sich oft die Rollen. Ich habe mich aber mehr mit den Mezzosopranistinnen identifiziert und bewundere Sängerinnen wir Marilyn Horne, Anne Sofie von Otter, Jennifer Larmore, Cecilia Bartoli oder Elina Garanca. Persönlich bezeichne ich mich daher als männlichen Mezzosopran.
Frage: Für Ihr neues Album haben Sie Rossini-Arien aufgenommen, was nicht ganz üblich für einen Countertenor ist. Ist die Herangehensweise dort eine andere als in der alten Musik?
Fagioli: Mit Rossini habe ich mich mein ganzes erwachsenes Sängerleben beschäftigt. Rossini schrieb noch für den letzten großen Kastraten – für Giovanni Battista Velluti – die Oper „Aureliano in Palmira“ und eine Kantate. Danach gab es keine Kastraten mehr, sie wurden unmodern – und Frauen übernahmen mit ihren hohen Stimmen diese Heldenrollen. Doch Rossini schrieb weiter in der Tradition der Kastraten. Daher habe ich auf meinem Rossini-Album Partien früher Hosenrollen eingesungen. Und wie ich schon sagte, auch Händel und andere Komponisten des 18. Jahrhunderts schrieben in der Belcanto-Tradition. Der Stil ist jeweils ein anderer, aber nicht die Art zu singen.
Frage: Belcanto meint nicht allein „schönen Gesang“, sondern ist eine lange vergessene musikalische Sprache, die Emotionen mit Ziernoten und Koloraturen ausdrückt. Wie vermitteln Sie dies?
Fagioli: Völlig richtig, Belcanto bedeutet nicht nur, schön zu singen. Es ist nicht nur ein Stil, es ist eine ganz besondere Art der Technik. Nehmen Sie als bestes Beispiel die einzigartige Maria Callas. Zurück zu Rossini, diesem wunderbaren Komponisten: Heutzutage ist er in erster Linie als Schöpfer zahlreicher komischer Opern bekannt. Seine Genialität zeigte sich aber schon längst in den vielen ernsten Opern, die er komponierte – und zwar in der Tradition des Belcanto mit all den vielen Farben.
Frage: In diesem Repertoire ist die Konkurrenz erdrückend. Ist es eine Belastung, mit Mezzosopranen verglichen zu werden?
Fragioli: Mein Repertoire wurde von den großartigen Mezzosopranistinnen gesungen und ich habe nicht vor, in irgendeine Art von Wettstreit zu treten. Ich kenne deren Aufnahmen, und ich bewundere zutiefst, was sie machen. Und ich habe viel von ihnen gelernt. Bei dem Rossini-Album geht es mir darum, meinen ganz persönlichen Zugang zu Rossini vorzustellen. Ich möchte zeigen, dass er es nie aufgegeben hat, in der Barocktradition zu schreiben. Er schrieb lange und ausdrucksstarke Accompagnato-Rezitative und großartige Arien mit immens vielen Koloraturen. Und noch etwas ganz Entscheidendes: Seine Heldenrollen gab er den hohen Stimmen, die jetzt von Frauen gesungen wurden. Auf der anderen Seite stelle ich mir auch vor, was Rossini gemacht hätte, wenn er Kastraten – oder sogar vielleicht mich – kennengelernt hätte. Hätte ihn das inspiriert?
Frage: Sie demonstrieren mit der neuen Aufnahme nicht nur sprudelnde Koloraturen, sondern ein erstaunliches hohes Register. Wie bekommt man das?
Fagioli: Belcanto heißt, dass man sich nicht nur auf die hohen Töne konzentriert, sondern auf den gesamten Umfang, auf die verschiedenen Register und tiefen Lagen – auch auf die Bruststimme. Im 19. Jahrhundert war das vor allem für die Frauenstimmen in den Hosenrollen wichtig, die die Rollen übernommen haben, die eigentlich für Männer – Kastraten – geschrieben worden waren. Von ihnen wurde erwartet, dass in der Bruststimme etwas „Männliches“ zu hören war. Alles muss ineinanderfließen, man darf keine Übergänge hören. Ich übe – man kann fast sagen: trainiere – jeden Tag, und achte dabei auch sehr auf meine Gesundheit.
Frage: Gibt es Rossini-Partien, die Sie gerne auf der Bühne singen würden?
Fagioli: Ich würde wahnsinnig viele Opern von Rossini gern auf der Bühne singen. Und ich freue mich, an dieser Stelle mitteilen zu dürfen, dass ich an der Opéra national de Lorraine in Nancy in einer szenischen Produktion von „Semiramide“ den Arsace singen darf. In Italien habe ich bereits den Arsace in „Aureliano in Palmira“ gesungen, die Partie, die Velluti sang. Das war eine große und wichtige Erfahrung für mich. Der Arsace in „Semirade“ ist vielleicht meine Lieblingspartie – es ist eine große Charakterstudie und eine dramatische Rolle.
ZUR PERSON: Franco Fagioli (35) ist ein argentinischer Countertenor. Seine Karriere begann 2003, als er den Wettbewerb „Neue Stimmen“ der Bertelsmann Stiftung gewann. Er gilt als glänzender Interpret und Virtuose, hat mit Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt, René Jacobs, Marc Minkowski und Riccardo Muti gearbeitet.