„Was wäre Kunst, wenn sie nicht im Augenblick der Rezeption das Gewohnte zerstören würde“ fragte WDR-Programmchef Karl Karst in seinen einleitenden Worten für die 45. Wittener Tage für neue Kammermusik. Kammermusik darf und soll auch aus ihren Kammern heraustreten. Mit solchen Einsichten wird in Witten gerne auch mal spielerisch umgegangen.
„Beiläufige Stücke: Mauersegler“ nennt der komponierende Aktionskünstler Manos Tsangaris seinen „Hörfilm-Remix für Stimmen, Horn, Schlagzeug, mobile Ensembles, Elektroakustik, Straßenbahnen und wanderndes Publikum“. So ziemlich alles, was es an diesem Wochenende in Witten gibt, wird zum künstlerischen Material. Das Publikum erobert neue Zuschauerräume, die zum Beispiel in verwaisten Ladenlokalen angesiedelt sind. Bühne ist die samstagabendlich verwaiste Fußgängerzone, wo Zufälliges und Inszeniertes interagieren. Die Hauptdarsteller interviewen vorbeikommende Passanten, deren Statements zu Bausteinen in einem subtil ironischen Hörstück werden. Ein Hornist und weitere Ensemblemusiker spielen in einer vorfahrenden Straßenbahn auf, welche eigens dafür ausgeliehen wurde. Alles klingt hier zusammen. Nicht länger getrennt scheinen die hermetischen Sphären kultureller Elite einerseits und alltäglicher Kulturferne andererseits.
Zudem hatten die Festivalbesucher bei diesem Happening viel Bewegung an der frischen Luft. Das hielt wach für viele spannende Uraufführungen. Weit gespannt ist das Altersspektrum im Publikum. Neben gereiften Kennern, die schon bei vielen Pioniertaten der Neuen Musik vor Ort waren, sind diverse Schulklassen auf der Suche nach neuen Hörerfahrungen und ästhetischem Diskussionsstoff.
Im Zentrum stand der Schweizer Komponist Dieter Ammann, und der machte seiner herausgehobenen Rolle alle Ehre. So markierten seine komponierten Werke immer wieder Höhepunkte – während sein abendliches Improvisationskonzert leider situativ bedingt unter einem etwas ungünstigen Stern stand. Ammanns neues Violinkonzert markierte dann umso mehr eine Sternstunde im Wittener Theatersaal mit einer famosen Carolin Widmann als Solistin. Das zu diesem Zeitpunkt bestens warmgespielte WDR-Sinfonieorchester griff die extrem zupackende und zugleich feinsinnige Spielkultur Widmanns in kongenialer Weise auf. Ammans jüngstes Konzert bietet berstende Expressivität, ekstatische Ausbrüche, ein schillerndes Spektrum mikrotonaler Zwischenwelten und Schwebungen – und all das sprühte unter Carolin Widmanns Händen vor aufrührerischer Lebendigkeit. Amann sieht sich stark von Wolfgang Rihm beeinflusst. „Ja, unsere Musiken berühren sich“ führt er im Gespräch aus – aber doch ist Ammanns Methode anders, vor allem wenn er die Kompositionsprozesse über lange Zeiträume ausdehnt.
Strenges Neutönertum und extreme formale Ambitionen fanden in Witten in vielen sinnlichen Aspekten von zeitgenössischer Musik ein hervorragendes Komplementär. Mit ganz viel Licht und schwereloser Luftigkeit webte das niederländische Niew Ensemble einen fein ziselierten Teppich aus Zupfinstrumenten in Unsuk Chins Komposition „Cosmigimmicks“. Ein eigenwilliges organisches Atmen verströmten zwei uraufgeführte Werke von Ivan Fedele und Bernhard Lang, wo vor allem raffinierte rhythmische Strukturen, verquerer Witz und gleichzeitig eine höchst eigenwillige stringente Logik auf dem Plan stand. Das Ensemble Makrokosmos wusste hervorragend, die Verwandtschaften zwischen diesen beiden Stücken herauszuarbeiten.
Dass Ensemble Rechere beweist immer wieder, dass es auch sehr verquere Konzepte souverän meistert. Da flimmert eine Fußballübertragung über die Leinwand, aber die Bilder sind in hektisch pulsierende Splitter zerhackt. Deswegen hat Johannes Kreidler sein Werk auch „Shutter Piece“ genannt. Rauschen, Publikumsrufe, Schnipsel von Kommentaren pulsieren und hämmern. Die Maschine diktiert die zerhackte Struktur, vor der es kein Ausweichen gibt. Dies nehmen zunächst die Streicher auf, dann stimmen weitere Instrumente in den motorischen Puls ein. Gnadenlos und suggestiv, bis schließlich zwei Pianisten ihre Ellenbogen auf die Tastentaturen krachen lassen. Musikalischer Witz? Dadaistischer Nonsens? Das Ensemble Recherche zeigte sich über jeden Klamauk erhaben. Es wurde gelacht und diskutiert. Weil das Gewohnte wieder einmal zerstört war.
Aber vorher ging ein anderer Künstler im Beiprogramm „Witten drin“ ganz direkt an die Basis heran: Matthias Kaul verschreibt sich Cages Diktum, dass alles Musik sein kann. Er, der von klein auf die Alltagswelt intensiv gehört hat, versammelt eine Menge Kleinkram, um diesen einem Klang-TÜV zu unterziehen. Haben doch Schneebesen, Wasserkessel, Schaukelstühle oder auch jener legendäre Kaktus, dem John Cage gleich eine Komposition widmete, ihre ganz eigene „Musikalität“. Ein Schlitten, der scheppernd über den Asphalt gezogen wurde, produzierte nach entsprechender Abnahme durch Mikrophone eine Soundwelt, die jener der niederländischen Noiseband „The Julie Mittens“ kaum nachstand, welche beim Nachtkonzert in der Kompositionen „Black Series“ von Peter Ablinger die Trommelfelle erbeben ließ. Und als einige verständige Kenner die Geräuschapparaturen ausprobierten, fielen denen sofort diverse Kompositionen ein, die genauso klingen. Erst waches Hören macht schöpferisch.