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Das Gurlitt-Bild rundet sich: Wiederaufführung der „Nana“ in Erfurt

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Spät erst erlebte „Nana“, die vierte Oper des Humperdinck-Schülers Manfred Gurlitt, ihre Uraufführung im Jahre 1958 in Dortmund, nachdem die 1933 in Düsseldorf geplante Premiere von den Nazis verboten worden war. Der 1890 in Berlin geborene Komponist und spätere Mitarbeiter Max Reinhardts vertonte mit Vorliebe sozial engagierte und skandalträchtige Stoffe, hatte aber das Pech, dass ihm Alban Berg mit „Wozzeck“ ein halbes Jahr zuvor kam und dass seine „Soldaten“ zum Zeitpunkt ihrer Wiederentdeckung im Schatten von Bernd Alois Zimmermanns gleichnamigem Musiktheater standen.

Auch „Nana“, nach dem skandalumwitterten Roman Émile Zolas, erweist sich thematisch als ein Seitenstück zu Bergs „Lulu“, orientiert sich dramaturgisch und mit musikalischen Rückbezügen aber am Schicksal anderer musikdramatischer Kurtisanen, an Verdis „La Traviata“ und noch stärker an Massenets „Mignon“. Zusätzliches Interesse beansprucht die bei der Universal Edition verlegte Oper aber hinsichtlich des originalen Librettos aus der Feder des Smetana- und Janácek-Übersetzers Max Brod.

Den Aufstieg und Fall des männermordenden Straßenmädchens Nana von der Geliebten eines Schauspielers zur gefeierten Titeldarstellerin in der Operette „Die blonde Venus“, anschließend hin- und hergerissen zwischen dem jungen Leutnant Philippe Hugon, Marquis Chouart und Graf Muffat, hat der Prager Dichter sehr frei in sieben Bilder eines Vierakters gefasst, bilder- und wortreich, witzig und mit Tiefgang, wie im Lied von der goldenen Fliege im Kot.

Obgleich die Uraufführung partiell von Deutschen Fernsehen übertragen wurde, herrschte im Dortmunder Theater ein Jugendverbot – vermutlich, da auch Zolas Roman noch auf dem kirchlichen Index stand. Der Dortmunder Produktion folgte eine 1967 eine Inszenierung in französischer Sprache. Ein Jahr zuvor war Wieland Wagner verstorben, der – vermutlich mit Anja Silja – eine Neuinszenierung der „Nana“ geplant hatte.

Im Rahmen der Reihe „Erfurt gräbt aus“ hat der Gelsenkirchener Generalintendant Michael Schulz eine formal durchgestyle, aufwändige Inszenierung geschaffen, zwischen Showstück und Zeitoper (Ausstattung: Dirk Becker und Reneé Listerdal). Jene „Milderungen“, die der Komponist, dem Drang der Politik folgend, „entgegen meiner persönlichen Absicht“ zurückgenommen hatte, hat Schulz nun drastisch zugespitzt. Da wird vom ersten Bild an ungemein viel kopuliert, angezogen und auch nackt (durch Doubles am Anfang des dritten Aktes) bis hin zum finalen nekrophilen, analen Akt des Muffat, mit der an Blattern verstorbenen Nana.

Aus seiner gefeierten Weimarer „Ring“-Inszenierung hat Schulz die Darstellerin der Grane, Rosemarie Deibel, auch für Gurlitts Oper eingesetzt. Sie verkörpert nicht nur die greisenhafte Tänzerin Pomaré (backstage stimmlich von der Altistin Katharina Walz gedoubelt), sondern steigt als hinzu erfundene, sprechende Rahmenfigur auch mit Nana ins Bett.

Unter der musikalischen Leitung von Enrico Calesso bewältigt das Philharmonische Orchester die vielschichtige Partitur, ein deutliches Produkt der späten Zwanzigerjahre, harmonisch in Bi- und in freier Tonalität á la Schreker. Formal durchkomponiert, leitmotivisch und assoziationsfreudig (Can-Can der Männer nach dem Auftritt der Nana als Blonde Venus!) schenkt Gurlitt seinem Publikum – ähnlich wie Korngold in seinen Opern „Die tote Stadt“ und „Das Wunder der Heliane“ – eine Reihe tonaler Ohrwürmer. Wie schon in seinen Opern „Wozzeck“ und „Soldaten“ sind Gurlitts Zwischenspiele besonders raffinierte Höhepunkte. Die Instrumentation der Oper ist farbig und stets bemüht, dem verbalen Bilderreichtum Brods zu entsprechen, vom Holzklappern der Pantöffelchen bis zu gestopften Trompeten für den Apfel in den Backen.

Erstaunlich rollendeckend verkörpern der Opernchor des Theaters Erfurt die Gesellschaft zwischen Bordell und Schlachtfeld, und das einundzwanzigköpfige Solistenensemble die insgesamt 26 Partien, vom texanischen Tenor Richard Calucci als Philippe Hugon bis zum Koreaner Ji-Su Park als Exotischem Fürsten. Einzig Ilia Papandreou in der Titelpartie – mit Soubrettenklang und kräftigen Forte-Tönen in der Höhe – glaubt man die gebotene Sinnlichkeit und Faszination auf die Männer so wenig, wie die Sopranistin in der ansonsten wahrlich nicht zimperlichen Inszenierung die Verkörperung der für Nanas Weg so entscheidenden, „blonden Venus“ schuldig bleibt.

Im nicht ganz ausverkauften Theater dankte ein überregionales Publikum, am Ende der über dreistündigen Premiere, allen Beteiligten ohne Widerspruch.

Die Erfurter Aufführung rundet verdienstvoll das Bild vom eigenwilligen Klangstil des 1939 nach Japan emigrierten und 1972 in Tokio verstobenen Komponisten. Nach der postumen Uraufführung von Gurlitts letztem Bühnenwerk „Nordische Ballade“ (nach Selma Lagerlöf, in Trier, mit Rundfunkübertragung) und der ungekürzten Erfurter Produktion, die auch auf CD erschienen soll, steht nun von Gurlitts musikdramatischem Oeuvre nur noch die Wiederaufführung des Erstlingswerkes aus, – der 1920 in Bremen uraufgeführten Oper „Die Heilige“ nach Carl Hauptmann.

Weitere Aufführungen: 28. April, 9., 14., 21., 23. Mai, 6. und 12. Juni 2010.

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