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Aussetzende Kopfsteuerung: „Così fan tutte“ in Bremen. Foto: Jörg Landsberg
Aussetzende Kopfsteuerung: „Così fan tutte“ in Bremen. Foto: Jörg Landsberg
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Das Lehrstück als Leerstück: Laurent Chétouane nimmt sich in Bremen „Così fan tutte“ vor

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Das klein besetzte Orchester bezieht Position in Augenhöhe zu den Leuten in den ersten Reihen. Die Balustrade, die für gewöhnlich den Graben vom Parkett trennt, wurde demonstrativ eingerissen. Trümmerteile sind seitwärts zu sehen. Da soll also etwas sichtbar zusammenkommen, was die Mode streng geteilt. Die Sänger, deren Kleidung sich von der des Publikums nicht nennenswert unterscheidet, beziehen vor, neben und hinter den ersten Geigen Stellung und bei den Fagotten.

Musiziert wird mit Brio und den Instrumenten des klassischen Sinfonieorchesters, von den Streichern allerdings strikt ohne Vibrato. Insgesamt zügig und schlank – also in Annäherung an Spielweisen, die „Originalklang“ für sich reklamieren. Clemens Heil hat die musikalische Sache von den ersten Anstößen der Ouvertüre bis zur ziemlich zähneknirschenden Versöhnung des zweiten Finales fest im Griff und strahlt dabei souveräne Lockerheit aus. Er greift auch selbst in die Tasten, um die Rezitative mit leichter Hand und für die Sänger zielführend zu accompagnieren. Die musikalische Basis der Produktion erweist sich nicht nur als grundsolide, sondern findet eine Facette von Tönen und Tönungen, die die Affekt- und Effektsphären des Auftragswerks sorgfältig, aber ohne didaktischen Impetus vermisst.

Die Mit- und Nachwelt konnte bislang nicht in Erfahrung bringen, ob Joseph II. über das Theater hinausreichende Zielsetzungen verfolgte (und wenn ja, welche), als er Lorenzo da Ponte den Auftrag erteilte, gestützt auf eine angeblich „wahre Wiener Begebenheit“ ein Theaterstück zu schreiben in der Tradition der heiteren italienischen Liebesproben oder auch der nicht ungetrübt erbaulichen französischen (unter letzteren ragt „La Dispute“ von Marivaux, 1744, heraus). Was da Ponte entwickelte, zeichnet sich nicht nur durch feinnervige Charakterisierung der drei ungleichen Paare und aller einzelnen Protagonisten aus, sondern auch durch den unkonventionellen offenen Ausgang der Handlung. Der Anteil des Librettisten an der differenzierten und sich im Stück entwickelnden Gestaltung der sechs Partien ist höher, als die auf Mozart zentrierte Rezeptionsgeschichte weithin wahrhaben wollte.

Der Kaiser, einer der klügsten Habsburger aller Zeiten, überlebte die Uraufführung von „Così fan tutte“ um keine vier Wochen. Hatte der passionierte Aufklärer, mit dem es das Leben nicht gut meinte, einem Teil der gedankenlosen Untertanen in seinem Wiener Umfeld ein wenig Realismus lehren lassen wollen? Oder gedachte er sich (wie seine kleine Schwester Maria Antonia in Versailles, eine der ersten französischen Interpretinnen des Theaterstücks) mit der ungeschminkten und absichtsvoll übertreibenden Versuchsanordnung einfach zu amüsieren? Oder wollte er katholische Kirchenkreise durch das Hoch auf die Dummheit ein wenig provozieren lassen – Leute, die theoretisch am Diktat von Treue als Ausschließlichkeit festhielten? Oder alles zugleich?

Um die Tatsachen der Geschichte müssen sich heutige Theatermacher nicht kümmern, wenn sie die süditalienisch kostümierte Schmonzette um Don Alfonso, Fiordiligi und Dorabella als „reine“ Liebesverwicklung oder Charakterstudie in Szene setzen (Teile das Publikums scheinen für die demonstrativ isolierten Liebes- und Beziehungsfragen derzeit wieder in besonderer Weise empfänglich). Vor diesem Hintergrund entwickelte Laurent Chétouane in dreifacher Hinsicht aktualisierenden Ehrgeiz. Er ließ wenig Zweifel daran, dass er eine Versuchsanordnung in Bezug auf hier und heute vorführt. Zuvorderst, so erklärte er, habe er aber das existentielle Drama der darstellenden Künstler – die Überwindung der Schüchternheit, die Angst vorm Versagen etc. – zeigen wollen. Indem sich abzeichnet, dass hinter den Darstellern, die sich öffentlich produzieren, allemal „ein Mensch steht“, geht es mithin um Aspekte von Theatertheorie und -therapie. Von daher mag sich die Pantomime erklären, die die sechs Akteure während der Ouvertüre rings um das im optischen Mittelpunkt stehende Orchester praktizieren (man schaut mit Erwartung zu). Dann aber hegte Chétouane, der dem Vernehmen nach in Bremen erstmals Oper inszenierte, zugleich das Anliegen, „das Begehren selbst“ zum Sprechen zu bringen (gemeint ist: zu visualisieren).

Es ist eine müßige Gesellschaft, die sich da die Zeit vertreibt mit nichts anderem als Nabelschau der „Beziehungskisten“ und mit „Begehren“. Fiordiligi, die ältere der beiden Schwestern, die Nadine Lehner ordnungsgemäß als die verantwortungsbewusstere und nachdenklichere vor Augen führt, entwickelt auch stimmlich die Facetten jenes nach Unendlichkeit gierenden Gefühls, von Kopf bis Knie auf Liebe eingestellt zu sein und zu bleiben – und sonst gar nichts. Dass Ferrando und Guglielmo wirklich in den Krieg ziehen müssten und dort gar zu Schaden kommen könnten, glauben sie wohl selbst nicht. Obwohl es auch Stabsoffizieren widerfahren kann, dass sie in Feindberührung kommen, wurde diese Option von Lorenzo da Ponte nicht in Erwägung gezogen – der Ruf zu Pflicht und Waffen bleibt Komödie in der Tragikomödie. Die von äußeren (also politischen, pekuniären oder familiären) Einmischungen völlig freigestellte Gesellschaft konzentriert sich ausschließlich auf ihre jeweiligen Herzensinteressen und Magengefühle sowie ggf. auch die Befindlichkeit der in der näheren Umgebung noch berührten Organe. Von der Betätigung der Köpfe und der belebenden Wirkung des Geldes haben nur die Partien Don Alfonsos und Despinas etwas abbekommen. Den Wirtshaus-Philosophen gibt Christoph Heinrich, als wäre er Stammgast des Café de Phare an der Place de la Bastille: Lässig existentialistisch gestimmt und völlig stimmig in der intendierten neuen Alltäglichkeit. Ein Bravo auch der kessen Dienerin, die in ihrem Faible fürs Leben auf der Piste u.a. für „Liebe aus purer Eitelkeit“ plädiert (es ist wohl nicht falsch anzunehmen, dass sie jenseits aller Vertiefungswünsche Selbstverliebtheit und Sex meint). Marysol Schalit bringt eine Stimme, Agilität und Frischfröhlichkeit mit, die diese Sichtweise nahe legen.

Die beiden ziemlich besten Freunde erscheinen als die naiven Schwärmer, als die da Ponte sie konzipierte: Ferrando, dem man in Gestalt und dank des verlässlichen Tenors von Luis Olivares Sandoval einen soliden Binnenschifffahrtskapitän zutrauen würde, ebenso wie Martin Kronthaler, der Guglielmo mit dem satten runden Bariton, der wie ein Bonvivant anmutet, nicht wie ein schneidiger Militär. Die Papp-Degen, die sich die beiden sympathischen Burschen zum unverhofften Ausrücken an die Biedermeier-Röcke hängen, unterstreichen die Ernsthaftigkeit der Kampfbereitschaft nicht wirklich. Die beiden grundguten Seelen leben ganz ihren Beziehungen und, nicht anders als ihre Partnerinnen, in temporären Schwebezuständen.

Die Bremer Inszenierung sorgt dafür, dass sie – kaum aus dem Haus – als verkleidete „Fremde“ aus der Walachei oder einem anderen Land dieser exotischen Provenienz zurückkehren: Mit grellen Perücken und dick Stiefelwixe im Gesicht (womit die Frauen auf die konventionellste Weise getäuscht werden, auch weiters bis zur Enthüllung nichts merken und in ihrem unbedingten Paarungswillen doof dastehen). Als die von ihnen für unverbrüchlich gehaltenen Bindungen durch ihr eigenes Betreiben aus den Fugen gehen und sich neu fügen, konzentrieren sich die beiden Helden ausschließlich aufs Beklagen, Bewältigen und Beschwichtigen dessen, was sie angerichtet haben. Dass ihre Kopfsteuerung aussetzte, demonstrierte die unter der Choreographie Chétouanes entwickelte Mimik nachdrücklich.

Die Crux der Produktion scheint die auf Ahnungslosigkeit beruhende fixe Idee des Spielleiters, der aus „Così fan tutte“ die „Entfaltung“ von politischem Begehren heraushört und das Werk auf die erste französische Revolution bezieht. Die ChoristInnen kommen als Sanscoloutten, Poissarden und Flintenweiber der Pariser Commune hereingestürmt. Dass Despina ein Medaillon in den Farben Blau-Weiß-Rot trägt, mag als neckisch durchgehen. Doch dass Dorabella (Ulrike Mayer) sich auch Ornat von 1789 zulegt, indem sie sich mit dem Gedanken des Partnerwechsels anfreundet, ist ebenso widersinnig wie die Nachahmung dieser Ornamentierung durch die anderen Protagonisten. Die bürgerlichen Revolutionäre von rechtem Schrot und Korn verabscheuten die Liebes- und Sexualgewohnheiten des Ancien régime in besonderer Weise. Chétouane verwechselte womöglich 1789 mit 1968. Doch fast nirgendwo war um die Wende zum Jahr 1790 die Welt noch so in alter Ordnung wie in der gemütvollen Wienerstadt, wo zwischen Obers und braunem Bier das Ungemach, das den französischen König und seine spitzzüngige Marie Antoinette ereilt hatte, eher amüsiert und mit Schadenfreude wahrgenommen wurde, noch keineswegs als Tragödie der Weltgeschichte (und schon gar nicht als Vorbild).

Ein halbes Dutzend Windmaschinen auf der ansonsten öden und leeren Chétouane-Bühne unterstreichen den für die Bremer „Così“ wehenden, mitunter stürmischen und dann wieder stillgestellten, den Atem anhaltenden „Zeitgeist“. Die Produktion erhält durch die verwirbelte Bühnenluft keine Schubkraft und durch die intensiven Blicke der Sänger nur Biss im Detail. Sie nähert sich einer konzertanten Aufführung durch die Aussparung des von den Autoren vorgesehenen neapolitanischen Ambientes und die Vermeidung fast aller Accessoires des Rokoko – nur die zuerst als Arzt, später als Notar verkleidete Despina wird aus dem Theaterfundus des 18. Jahrhunderts herbeizitiert. Insbesondere der Verzicht auf Personenführung im Sinn der narrativen Handlung und die Fokussierung auf Darsteller, die – bis auf wenige Momente der intensiven gegenseitigen Berührung – auf sich allein gestellt wurden, entstehen weithin Theatersituationen, die der sichtbaren Hervorbringung des Instrumentalklangs (und damit der Musik) den Vortritt einräumen. Das ist zwar alles andere als neu, lässt sich dann aber auch wieder gut goutieren.

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