Wie ich mich einmal gründlich irrte und bis heute aus dem Labyrinth der wahren Werte und Fehlurteile nicht mehr herausfinde. Von Theo Geißler. [Vorabdruck aus der Zeitung des Deutschen Kulturrates, Politik & Kultur 2020/10]
Wenn man davon ausgeht, dass frühkindliche Erfahrungen besonders persönlichkeitsprägend sind, müsste ich ein unerschütterlicher, zuverlässiger Freund der Vereinigten Staaten von Amerika sein.
In meinem kleinen bayerischen Geburtsort gab es in den Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts – vielleicht auch wegen des seinerzeit noch reizvollen voralpenländischen Ambientes – eine üppig besetzte Niederlassung der US-Army. Ob schwarz oder weiß – egal: Die GIs erwiesen sich in meiner freilich sehr subjektiven Wahrnehmung damals als ausgesprochen freundlich und großzügig. Wenn man mit ein paar andressierten semi-englischen Floskeln Kontakt aufnahm (Hello, hau ar ju) – wurde man gemeinhin mit „Betterfinger“, einem mittlerweile ausgestorbenen Schoko-Riegel, Kaugummi und/oder bestenfalls auch einem Fläschchen Coca-Cola versorgt. Lauter Delikatessen, bestens geeignet, bei Mitschülerinnen Eindruck zu schinden, zu teilen, am liebsten natürlich mündlich „vorbereiteten“ Dubble-Bubble-Gum. War ich damals schon korrupt?
Im sogenannten Sachunterricht der ersten Gymnasialklassen lernten wir jede Menge über die mutigen transatlantischen Befreier vom Nazi-Regime, den Marshall-Plan, ohne den Deutschland bekanntlich verhungert wäre, über die Berliner Luftbrücke und die Gemeinheiten der Kommunisten ab DDR-Grenze bis Wladiwostok im Speziellen und China im Besonderen. Weitergehende Informationen über historische, speziell kulturelle Entwicklungen in diesen bedrohlichen Zentren der Knechtung jedweder humanen Regung standen für diese – und auch weitere – Schulstufen damals nicht auf dem Lehrplan.
Eigentlich also in der Wolle durch die fantastischen Vorzüge des „American Way of Life“ gefärbt, verschlug es mich mitten in der Pubertät in die Großstadt. Schnell lernte ich, dass man in der Mittelstufe Levis-Jeans und keine kurzen Lederhosen zu tragen hatte – und ich mit meinem Kornett-Dilettiere statt durch Tröten des zweiten Satzes von Haydns Trompetenkonzert mit den Blue-Notes einiger schlichterer Jazz-Standards als Landei besser bei interessanten Gesprächspartner*innen ankam. Und die waren schon damals durch die Bank „systemkritisch“. Für mich tat sich ein eher in der Breite begrenztes, in der „Fruchtbarkeit“ aber starkes Feld kritisch-linker Sichtweisen auf. Verbunden mit einer mir bis heute noch gut verständlichen Abneigung gegen den Rüstungswahnsinn und die atomare Bedrohung durch den Kalten Krieg der Großmächte, gegen die allgegenwärtigen kapitalistischen Exzesse, etwas später gegen die Manipulation durch erzkonservative Medien gesteuerte Meinungsmache, gegen Datenkraken und Digitalfetischisten, gegen, gegen … – ich überspringe ein paar schlimme gute Jahrzehnte – und sah, sehe rettende Ufer in qualitätvoller humanistischer Bildung, in allen Ausprägungen kultureller Kreativität, im verständnisvollen Umgang mit Andersdenkenden, Fremden, scheint’s Feindlichem.
Im Kontext zu diesen Entwicklungs-bruchstücken verfiel ich – beispielsweise was meine frühe Prägung, die „Liebe“ zu allerhand Amerikanischem betrifft – in eine gewisse Schizophrenie. Beim Start meines Studiums an der Münchner Filmhochschule lockte mich verblendet Hollywood. Mein Abschlussfilm: ein grober antiamerikanischer Agitationsstreifen aufgrund der Brutalitäten der US-Army in Vietnam. Wie kann eine Gesellschaft, die in Literatur, Musik, Bildender Kunst oder in Schauspiel oder Film ein Füllhorn an genialen Werken, gestaltet von Künstlerinnen und Künstlern allerhöchster kreativer, oft auch humanistischer, zukunftsweisender Qualität hervorgebracht hat und hervorbringt, derart moralisch verkommen, wie sie es nach einem kurzen Obama-Halb-Hoch zugelassen hat?
Andererseits: Welches Recht habe ich deutsche Hochnase, aus der momentan noch relativ zarten Sozialwatte meiner Miniunternehmerexistenz heraus solches Urteil zu fällen? Sitze ich, mit Pflastersteinen jonglierend, nicht selbst in einem ziemlich flachen Glashaus? Als kleiner agnostischer Protestant in einem Land, das längst wieder braune Killerpilze zulässt. Dessen Exekutive sich teils in den digitalen Schmähpost-Bordellen frauen- und fremdenfeindliche, antisemitische und antizigane Hasstiraden zujodelt? Dessen Finanzsystem eher durch Korruption und Geldwäsche denn durch die schöngejubelte „soziale Marktwirtschaft“ geregelt wird. Einem Land, in dem sich Polizisten Koks mit Dealern teilen, eine NSU jahrelang morden kann, weil der Verfassungsschutz schmutzt und die Justiz unter Sehschwächen leidet. Die eher passiv mit ansieht, dass Grundgesetzleugner und QAnon-Verschwörer viel Platz zur Selbstdarstellung, Desinformation und Kundenwerbung bekommen. Einem Land, in dem für Waffensysteme, die dann teils auch noch gesetzwidrig in Krisengebiete ertragreich exportiert werden, mehr investiert wird als in die bestmögliche Bildung der Kinder. Kann man das noch „Demokratie“ nennen – oder fehlt uns nur noch ein Trump, um zurück in die Barbarei zu fallen? Schon gut, ich bin ganz still – und entschuldige mich in aller Form für den ketzerischen Missbrauch unserer Jux-Seite.
- Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur