Neulich sprach uns in München Herr B. an. Freundlich, mit mildem Blick. Herr B. stand auf dem Gärtnerplatz vor dem dort befindlichen gleichnamigen Theater. Er hielt eine Liste in der Hand und einen Kugelschreiber und fragte bescheiden – nein, nicht nach einer Geldspende. Ob man vielleicht bereit sei, eine Unterschrift zu „spenden“, für den Erhalt „seines“ Orchesters – er ist nämlich, wie sich im folgenden Gespräch herausstellte, Konzertmeister bei den Münchner Symphonikern, die früher einmal als Kurt-Graunke-Orchester firmierten.
Die Stadt München, genauer die herrschende politische Mehrheit inklusive ihrer regierenden Repräsentanten um den Oberbürgermeister Christian Ude, mag die Symphoniker nicht mehr unterstützen. Im nächsten Jahr soll der Zuschuss um 280.000 Euro abgesenkt werden, in der Spielzeit darauf wird auch der Rest von den bisher geleisteten rund anderthalb Million Euro Subvention entzogen. Das bedeutet das Ende des Orchesters, das 30 Prozent seines Etats selbst einspielt, 40 Prozent weiterhin vom Freistaat Bayern erhalten würde und dann auf die 30 Prozent von der Stadt verzichten müsste – was nicht zu verkraften wäre.
Leidtragende wären nicht nur die sechzig hoch qualifizierten Musiker des Orchesters, mehr noch träfe das die vielen Musikfreunde in Stadt, Region und bayerischem Land, die den rund hundert Konzerten, die das Orchester in der Saison gibt, eine Platzausnutzung von neunzig Prozent sichern. Es ist ein sehr treues, musikverständiges Publikum, das sich mit „seinem“ Orchester auch innerlich verbunden fühlt – ein traditionsreiches Stück bürgerlicher Musikkultur eben, das einer Musikstadt wie München nicht nur gut ansteht, sondern Teil der kulturellen Identität darstellt. Dass dieses Orchester auch immer wieder zu internationalen Tourneen eingeladen wird, nach Japan, nach Südamerika, sei für diejenigen erwähnt, die in ihrer Ignoranz womöglich glauben, es handle sich bei den Symphonikern um eine Art Liebhabervereinigung mit kratzenden Bratschen und kicksenden Hörnern. Die japanischen Musikfreunde wissen es wohl besser als einheimische selbst ernannte Kulturpolitiker.
Letztere erhielten jetzt, gleichsam als Strafe für die „symphonische“ Niedertracht, eine „philharmonische“ Nuss zu knacken. Nachdem sie ihr Renommierorchester, die Münchner Philharmoniker, schon bei der Verpflichtung des derzeitigen Chefdirigenten James Levine finanziell bis aufs Blut gequält hatten, scheint sich das Spielchen jetzt bei der Levine-Nachfolge zu wiederholen. Neo-Furtwängler Christian Thielemann – natürlich kann nur er es sein, auch wenn man sich den umschwärmten Maestro mit der Deutschen Oper in Berlin teilen muss – verlangt zwar etwas weniger als der millionenschwere Levine (ist ja auch noch etwas jünger), doch möchte sich Jungstar Thielemann gegen denkbare kulturpolitische Winkelzüge und künftige Niederträchtigkeiten vertraglich absichern. Die aufgestellte Falle für die Stadt würde so funktionieren: Beschließt München, die Orchesterstärke der Philharmoniker aus finanziellen Gründen auf unter 120 Musiker abzusenken, erhielte Chef Thielemann das Recht, aus seinem von 2004 bis 2011 laufenden Vertrag vorzeitig auszusteigen. Von seinen Gagen bis 2011 erhielte er als Abfindung das so genannte Fixum, den Grundbetrag für den Dienst als Chef, zu dem dann die Honorare für die einzelnen Konzerte kämen, die natürlich bei vorzeitiger Kündigung wegfielen. Aber auch das Fixum würde sich zu einem hübschen Sümmchen addieren, mit dem die Münchner Symphoniker einem Gutteil ihrer Sorgen enthoben wären.
Man erkennt unschwer an allem, dass Kulturpolitik kein leichter Job ist, vor allem dann nicht, wenn man keinen Überblick besitzt und sich besinnungslos dem name-dropping hingibt, für das besonders traditionsbeladene Sinfonieorchester wie die Philharmoniker in München ein Faible besitzen. Dass sich wiederum Promi-Künstler gegen denkbare Anmaßungen der Kulturpolitik absichern, kann man ihnen nicht verdenken – der schlechten Beispiele gäbe es viele. Unabhängig davon, ob man sich nun in München mit Thielemann einigt oder nicht – der Vorgang vermittelt auch bei abstrakter Betrachtung ein Lehrbeispiel für das Funktionieren des gegenwärtigen Musikmarktes: Der „Big Name“ soll viele Auftritte, weite Reisen, Schallplattenaufnahmen (derzeit nicht sehr einträglich), Festspielrepräsentanz, Sponsorengelder garantieren. Die Musik darf dazu die Begleitung liefern, und wenn einer auf dem Primat der Musik beharrt, dann ergeht es ihm womöglich wie den Münchner Symphonikern, die keinen Promi-Dirigenten besitzen und keinen Sponsor, nur ein musikliebendes Publikum.
P.S. In diesen Tagen und Wochen erlebt man in unseren Landen, also auch in Bayern und München, wieder die Wettbewerbe von „Jugend musiziert“. Der Ansturm musikbegeisterter, musikversessener Jugendlicher war so stark wie kaum je zuvor. Ein Hoffnungszeichen? Vielleicht? Sicher?? Nur schade, dass es womöglich keine Orchester mehr geben wird, wenn diese jungen Musiker eines Tages an die Tür eines Orchesterbüros klopfen sollten: Wegen Orchesterauflösung geschlossen. Wegen Einstellungsstopp kein Vorspiel. Wozu die ganze Begeisterung vorher, der Einsatz, das Streben zur Perfektion? Das derzeitige Musikleben ist – um es mit dem Schlusssatz von Wedekinds Marquis Keith zu sagen – eine Rutschbahn. Da helfen auch kein Rattle, kein Thielemann, keine Philharmoniker. Vielleicht die Komponisten, die noch über die Zukunft der Musikinhalte nachzudenken vermögen.