Mittwochvormittag um kurz vor zehn. Im Probenraum des NDR Chores ist etwas mehr Betrieb als sonst: An der linken Seite sitzen vier Zuhörer; daneben steht eine Videokamera. Sie ist auf die dunkelhaarige junge Frau im schwarzen Blazer gerichtet, die den Anfang macht. „Guten Morgen! Ich würde gerne an „Jesu meine Freude“ arbeiten“, sagt Marya Benyumova. Mit sanft schwingenden Bewegungen dirigiert die 26-jährige Russin den Fugensatz „Ihr aber seid nicht fleischlich“ aus Bachs Motette einmal bis zum Ende, bevor sie ein paar Wünsche äußert: „Ich hätte es gerne leichter, so dass die Koloraturen immer halbtaktig sind. Und die Nebensilben bitte noch weicher abfedern!“
Marya Benyumova wird vom Dirigentenforum des Deutschen Musikrats gefördert – deshalb kann sie, ebenso wie die vier anderen Stipendiaten, mit den Profisängern des NDR Chores arbeiten. Sie alle haben pro Tag eine halbe Stunde Zeit, um ihre Vorstellungen zu Bach, Brahms, Debussy oder Mäntyjärvi umzusetzen und werden dabei vom renommierten schwedischen Dirigenten Stefan Parkman gecoacht. Er hört und sieht sehr genau zu, mischt sich aber nur ganz selten ein, zum Beispiel, als die Sänger bei einer komplizierten Stelle auch im dritten Anlauf nicht richtig zusammen sind: „Ich finde es sehr gut, was Du für Ideen zur Artikulation hast. Aber jetzt müsstest Du Dich um den Rhythmus kümmern. Immer die Sechzehntel im Kopf behalten, und die anderen Stimmen dazu bringen, mit den Sechzehntelläufen solidarisch zu sein!“, rät er Benyumova.
Meistens lässt Pädagoge Parkman seine Schützlinge aber erstmal selbständig arbeiten: „Die Dirigenten sind natürlich nervös, wenn sie vor dem Chor stehen; sie müssen so viel im Kopf haben und auf so viele Dinge reagieren, obwohl nicht viel Zeit ist - da störe ich nur, wenn ich in der Situation auch etwa sage. Ich mache mir aber Notizen und bespreche das alles dann nach der Probe.“
Die Hilfestellungen betreffen sowohl die Methodik der Probe, als auch schlagtechnische Fragen oder das generelle Auftreten – der eine Kandidat könnte etwas selbstbewusster auftreten, während seine Kollegin ihr überschäumendes Temperament noch mehr im Zaum halten sollte.
Parkmans uneitle, konstruktive Kritik und der Umgang mit dem sehr flexibel reagierenden NDR Chor sind für die begabten Nachwuchsdirigenten eine tolle Möglichkeit, an den eigenen Stärken und Schwächen zu arbeiten. Davon profitieren die noch ganz jungen Studenten ebenso wie der bereits erfahrene Chorleiter Markus Landerer, der schon seit 2007 als Kapellmeister am Wiener Stephansdom angestellt ist und eine entsprechende Souveränität ausstrahlt. „So ein Coaching hilft enorm weiter, weil es immer wieder neue Möglichkeiten aufzeigt. Als musikalischer Leiter einer Gruppe muss man ja versuchen, in kurzer Zeit auf den Punkt zu kommen. Es geht also darum, ganz ökonomisch zu bleiben und nicht zu viel auf einmal zu wollen – diesem Geheimnis sind wir alle auf der Spur.“
Im öffentlichen Abschlusskonzert treten alle Stipendiaten mit je einem Stück auf – und präsentieren dabei mehr als beachtliche, teilweise exzellente Ergebnisse. „Wir waren auch erstaunt, wie schnell man doch fünf so unterschiedliche Persönlichkeiten mit ihren eigenen Ideen und Körpersprachen verstehen lernt“, sagt die Altistin Ina Jaks im Gespräch mit Moderator Ludwig Hartmann, der durch den spannenden Abend führt.
Der NDR Chor demonstriert seine stilistische Wandlungsfähigkeit und folgt den Vorstellungen der jungen Dirigenten sehr konzentriert. Sie alle haben in dieser Woche spürbar dazu gelernt und verfügen teilweise über ein beeindruckendes Potenzial – wie etwa die erst 24-jährige Litauerin Mirga Grazinyte, der man ohne Übertreibung ein herausragendes Talent bescheinigen darf. Wie sie körpersprachlich eine sängerfreundliche Geschmeidigkeit mit akkurater Präzision und starker Präsenz vereint und dem NDR Chor bei Jaakko Mäntyjärvis „Canticum calamitatis maritimae“ damit eine breite Palette unterschiedlicher Farben und Emotionen entlockt, ist jetzt schon meisterlich.