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Trashig aufgemöbelte Szenenfolge: Kagels „Aus Deutschland“ in Freiburg. Foto: Maurice Korbel
Trashig aufgemöbelte Szenenfolge: Kagels „Aus Deutschland“ in Freiburg. Foto: Maurice Korbel
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Der Amoklauf von Freiburg: Calixto Bieito inszeniert Mauricio Kagels „Aus Deutschland“

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Rebecca Ringst hat fünf Fachwerkhäuschen auf die Bühne des Freiburger Theaters bauen sowie mit Girlanden von Glühbirnen versehen lassen. So wird vorweihnachtliche Idylle im mittelalterlichen Kern von badischen oder württembergischen Kleinstädten illuminiert. In der Mitte der Uhrturm, aus dem später die operettenhafte Ritterrüstung hervorbricht. Vor dem Platz, auf dem die Giebelhäuser herumrangiert werden können, wartet eine Brücke über den Mühl- oder Orchestergraben.

Dem Leiermann, der von Wilhelm Müllers und Franz Schuberts „Winterreise“ her noch ein Begriff sein mag, setzten die ausgiebig knurrenden und heulenden Hunde des Liederzyklus zu. Schwarzwaldmädel gehen auf den Balkonen in Stellung als Drohung und Verheißung zugleich. Irgendwie also wird hier „Romantik“ verhandelt und verschandelt. Bald auch das Ende der grotesk konservierten „besseren“, aber leider längst vergangenen Zeiten. Goethes Ruh’ ist hör- und sichtbar dahin – Neal Schwantes, der Darsteller des erotisch aktiven Dichterfürsten, schlägt in einem Anfall von Jähzorn ein paar Füllungen aus den Fachwerkrahmen. Und der verhaltensgestörte Edward aus Carl Loewes Ballade massakriert seine Mutter. Gabriel Urrutia, der sich auch als Grenadier auf den Rußlandfeldzügen Napoléons und der deutschen Wehrmacht bewährt, erledigt das, indem er sie mit dem unhandlich großen Schwert melodramatisch vom Unterleib her aufschlitzt.

Mauricio Kagels Liederoper eröffnet nicht nur den Erinnerungen an den Weimarer Geheimen Rat und Theaterdirektor Auftrittsmöglichkeiten, sondern auch dem sexuell frustrierten Komponisten Franz Schubert („Du holde Kunst“) oder Heinrich Hei­nes „Zwei Grenadieren“ und der blond-weiblichen „Dichterliebe“ („Ich grolle nicht“, „Vergiftet sind meine Lieder“, „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“). Adalbert von Chamis­sos „Kartenlegerin“ konkurriert und kohabitiert mit Friedrich Hölderlins „Hyperion“ und noch einigen weiteren Figu­ren aus der Tiefe des deutsch-österreichischen Bildungs­raums. Carl Loewes „Edward“ demonstriert, in wie hohem Maß die Balladen des 19. Jahrhunderts allemal Opern im Westentaschenformat waren. Die historischen Lieder er­scheinen in Kagels Opus ohne die Musik, die oft für die Haltbar­keit entschei­dender gewesen sein dürfte als die literarische Qua­lität: hier geht es maßgeblich um die kritische und ironische Reflexion der Klavierlied-Tradition. Der 2008 gestorbene, 1931 in Buenos Aires geborene Köl­ner Komponist lieferte eine Art „Radierarbeit“, wie sie immer wieder auch in der Bildenden Kunst vorkam: die Reproduk­tionen von Teilen „klassischer“ Werke wurden unsichtbar (in diesem Fall: un­hörbar) gemacht und zum Ausgleich für solches Defizit mit neuen Schichten überlagert.

Neuerliches Vermessen einer imposanten Klavierlandschaft

Als „Aus Deutschland“ im Mai 1981 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt wurde, rügte Joachim Kaiser in der „Süddeutschen Zeitung“ die triste Dominanz von Kagels Eindeutigkeit. Andere Rezensenten waren der Meinung, dass Kagel das große Thema („Aus Deutschland“, dem geteilten Land!) unterm möglichen Wert „verkauft“ habe – selbst die kritisch zu reflektierende Liedertradition. Kagel, der selbst inszenierte, schien jedenfalls die Chance, ein imaginäres Museum der Leitmotive des bildungsbürgerlichen 19. Jahrhunderts zu entwerfen, verspielt zu haben. Als dann aber 1997 Herbert Wernicke das Werk in Amsterdam in grandioser optischer Anspielung auf Caspar David Friedrichs Bild „Eismeer“ präsentierte, gewann die Kagelsche Theater-Musik und das mit ihr intendierte ironische Musiktheater einen tieferen Sog und Züge einer weit hinaus scheinenden Bedeutung: Dut­zende von Klavieren und Flügeln in unterschiedli­chem Grad der De­montage oder Vollständig­keit türmen sich vom Parkett des Theatre Carrée bis hoch in den Bühnenhinter­grund.

Mit solcher Kunstsinnigkeit hat Calixto Bieito nichts im Sinn. Er nutzt die kleingliedrige Szenenfolge in Freiburg für eine trashig aufgemöbelte Szenenfolge – konsequent kleingliedrig, zugleich in grobkörniger Weise mechanisch „lustig“. Zum Kernbegriff Deutschland fällt dem katalanischen Regisseur außer der Kostümierung des Musikantenstadels nur der weltweit berühmt-berüchtigtste deutsche Politiker ein. Auch ein Dutzend Gartenzwerge erhebt die rechten Arme zum Hinkelgruß. Einen trifft der Hammer der erdgöttlichen Leandra Overmann. Von ihm bleiben nur Scherben.

Fabrice Bollon sorgt für eine präzise Realisation der Klavierkammermusik im Graben und die Koordination mit dem Rezitieren auf der Bühne. Die Faktur der Musik kommt in einem relativ kleinen Haus wie dem an der Bertoldstraße vorteilhafter zur Wirkung als in so großen Hallen wie der Deutschen Oper Berlin. Zumal, wenn der Zuschauerraum offensiv als Klangraum genutzt wird.

Die Nacht- und Todesverbundenheit der deutschen literarischen und musikalischen Romantik, die Kagels Liederoper beschwor und mit neu formatiertem Kammerton versah, wird von Bieito in eine von Xavier Sabata exzessiv gestaltete Schreiorgie der Mignon überführt. Das „Nur wer die Sehnsucht kennt, fühlt, was ich leide“ – Goethes großer Seufzer führt nicht zu stiller Introvertiertheit, nobler Stille und Leere, sondern zur Explosion. Bieitos grelle Episodenfolge, in der die jeweiligen Akteure allemal einfach nur „dran sind“, mündet mit einer gewissen Konsequenz im Amoklauf von Freiburg: Leandra Overmann erschießt alle – zu den Titeln bekannter und vergessener Schubert-Lieder: eine „Leichenphantasie“.

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