Die ohnehin schon recht üppige Klangfarbenpalette von Puccinis Turandot-Partitur ist um eine Instrumentengruppe reicher geworden: In der Münchener Produktion durch die katalanische Theatertruppe „La fura dels Baus“ zücken auf ein Symbol in der Übertitelungsanlage hin 2.100 Zuschauer ihre 3D-Brillen. Das polyrhythmische Rascheln fällt freilich nicht weiter ins Gewicht, denn auf die Musik hat vorher wahrscheinlich auch keiner gehört.
Zu übermächtig ist das optische Spektakel und die damit einhergehende Geschäftigkeit auf der Bühne. Wir befinden uns, so Regisseur Carlus Padrissas Inhaltsangabe, im China des Jahres 2046 (Wong Kar-Wai lässt grüßen). Der durch Übernahme des bankrotten Europa zur Weltmacht aufgestiegene Tiger ist zum Eisbären mutiert, zur Einstimmung auf die allfälligen Enthauptungen gescheiterter Turandot-Prätendenten gibt’s Eishockey, Cheerleaderinnen ziehen auf kessen Kufen ihre Kreise.
Die Prinzessin selbst lässt durch ein riesiges Überwachungsauge (hier winken nun der Blade Runner, Orwell und Kubricks HAL) die nächste Exekution ankündigen und gibt schließlich höchstselbst das finale Signal. Dieses Auge ist es, das von nun an immer wieder als Projektionsfläche für 3D-Effekte genutzt wird. Eine höhere Ebene der Macht wird dadurch optisch suggeriert, aber auch deren Kehrseite, als zu Turandots Bekenntnis „In questa Reggia“ die Vergewaltigung ihrer Ahnin als Film abläuft, sich ihr inneres Auge also gleichsam nach außen kehrt.
Dass sie sich in ein ewiges Keuschheits-Eis eingeschlossen hat, hindert sie freilich nicht daran – eine der vielen Ungereimtheiten dieser einzig auf visuelle Oberflächenreize setzenden Opern-Dekoration –, sich mit barbusigen Gefährtinnen zu umgeben. Unnahbar ist sie von oben hereingeschwebt, mit jeder vom unbekannten Prinzen beantworteten Frage (statt auf den erfolglos herangezogenen Tablet-Computer setzt dieser auf eigenes Hirnschmalz), kommt sie dem Boden der unausweichlichen Tatsache näher.
Auch das Niveau der Projektionen sinkt: Das Eis, das nunmehr von dem riesigen Tor herabbröckelt, macht erstaunlich geringen Effekt und auch als am Ende nach Liùs Opfertod die futuristische Alptraumwelt verschwindet und einem von der Kraft des Liebesopfers genährten Bambuswald weicht, scheinen die Katalanen ihr Pulver schon verschossen zu haben.
Ein eindringlicheres Bild gelingt ihnen eigentlich nur zu Beginn des zweiten Aktes, wenn ein Meer abgeschlagener Köpfe in Bewegung kommt und mit den rückwärtigen Projektionen optisch verschmilzt. Auch diese Schädelstätte, von der aus sich Ping, Pang und Pong ihre ländlichen Idyllen herbeisehnen, ist allerdings mit ihren makellos weißen Häuptern mehr gehobenes Design denn Schreckensszenario.
Der Soundtrack für dieses insgesamt zirzensische, dennoch nie wirklich überwältigende Spektakel liegt beim früheren Münchener Generalmusikdirektor Zubin Mehta in bewährten Händen. In der Rätselszene weiß er manch verborgene Kostbarkeit der Partitur hörbar zu machen, ist sonst aber als Koordinator der im Zusammenspiel mit dem Schlagwerkapparat nicht durchweg optimal abgestimmten Orchesterfluten meist so gefordert, dass für subtile Gestaltung kaum Freiraum bleibt. Die von Sören Eckhoff einstudierten Chöre (exzellent: der Kinderchor) entfalten erst nach und nach die nötige raumgreifende Leuchtkraft und rhythmische Prägnanz, um schließlich aber auf jenem Niveau zu agieren, das die Sängerbesetzung nur phasenweise erreicht.
Ekaterina Scherbachenko als Liù kam am Premierenabend über einige anrührende Momente nicht hinaus, nach ihrem „Signora ascolta!“ verweigerte ihr das Publikum den vom Maestro mit demonstrativer Pause und aufmunternder Geste suggerierten Applaus. Am Ende des „Tanto amore“ rutschte ihr die hohe Schlusspassage weg, entsprechend untröstlich wirkte sie beim dann doch stürmischen Schlussapplaus. Solide lieferten Alexander Tsymbalak als Timur sowie Fabio Previati (Ping), Kevin Connors (Pang) und Emmanuele D’Aguanno (Pong) ihre Parts ab.
Beim Sängerwettstreit, zu dem die Rätselszene mangels Personenführung verkam, blieb Jennifer Wilson zweite Siegerin. Ihre Turandot, die als Figur von der Regie hinter den Stoffbahnen des Kostüms weitgehend versteckt blieb, war in der tiefen und mittleren Lage wenig präsent, kam an entscheidenden Stellen aber mit mächtiger Tessitura über Chor und Orchester hinweg. Von Marco Berti als Calaf waren nuancierte Zwischentöne oder eine klangvolle mezza voce nicht zu hören, dafür aber eine sichere und mit dynamischen Reserven ausgestattete Höhe. Entsprechend lieferte er das „Nessun dorma“ – nunmehr im Glanz nächtlicher Fassadenwerbung – als Nummer ab. Zubin Mehta unterstrich dies, indem er den Konzertschluss dirigierte, was in diesem Fall den erwünschten Beifall nach sich zog. Nicht nur hier blieb die am Ende durch die Entscheidung für die Fragmentfassung beschworene „Poesia“ eine uneingelöste Behauptung.
Beim finalen Applaus-Tumult schienen die Befürworter des szenischen Konzepts in der Mehrheit zu sein.