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In Mönchengladbach uraufgeführt: das experimentelle Musiktheater „Josefine“ Foto: Matthias Stutte
In Mönchengladbach uraufgeführt: das experimentelle Musiktheater „Josefine“ Foto: Matthias Stutte
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An der Grasnarbe des experimentellen Musiktheaters: Zur Uraufführung von Sagardías „Josefine“ am Opernhaus Mönchengladbach

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Das Projekt „Josefine“ gehört zu den offiziösen künstlerischen Unternehmen in Nordrhein-Westfalen. Die ihm zugrunde liegenden Konzeptionspapiere schienen das amtliche Vertrauen zu rechtfertigen. Mit diesem als „experimentell“ deklarierten und beworbenen Musiktheaterabend geht es um nicht weniger als um den Einzelnen und die Masse im Zeitalter des Internets.

Die vereinigten niederrheinischen Theater präsentierten im Opernhaus Mönchengladbach-Rheydt eine Uraufführung, die einige Sänger des Ensembles und Mitglieder der Niederrheinischen Symphoniker mit einem 60-köpfigen Laienchor zusammenführte. Dergleichen Kooperationen dienen erfahrungsgemäß der Verankerung der Theater in den Gemeinden ihres Einzugsbereichs. Das flache Land links und rechts des Niederrheins ist von alters her eine sangesfrohe Region, bis heute eine mit besonders großer „Chordichte“. Der Theaterdirektor, der den Schulterschluss seines allemal von Geldsorgen geplagten und unter beständigem Legitimationsdruck leidenden kommunalen Unternehmens mit den Laienchorsängern sucht, macht also per se schon nichts falsch. Denn die meisten der Hausfrauen, Lehrerinnen und Pensionisten, die da punktuell mit dem Profibetrieb verknüpft werden, bringen etliche Verwandte und Freunde mit. Das stabilisiert die Platzausnutzungsquote. Für deren Berechnung erweist sich auch das Überbauen zahlreicher Parkettreihen als hilfreich. Beide probate Rezepte wurden in Mönchengladbach eingesetzt, also keine Mittel gescheut, die Kreation auch in statistischer Hinsicht zum Erfolg zu führen – ein „Werk“, das wohl von einigen Stichworten aus einem Kafka-Text und interessant klingenden Konzeptionspapieren seinen vielversprechenden Anfang genommen hat.

1924 erschien Franz Kafkas letzte Erzählung „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ im Sammelband „Ein Hungerkünstler“. Es handelt sich um die Geschichte von dem als Sängerin reüssierenden Tierchen, dessen Singen eher einem leisen Pfeifen gleicht; zwar könnte dergleichen auch so gut wie jedes andere Exemplar seiner Sorte von sich geben; gleichwohl ist Josefines Virtuosität öffentlich unumstritten (nur manchmal, hinter vorgehaltenen Pfötchen, gestehen sich Zuhörer den realen Sachverhalt ein). Das klingt wie eine fabelhafte frühe Kritik der Kulturindustrie: Denn der mit dem Habitus einer Diva vorgetragene Josefinen-Gesang verfehlt bei Kafka seine Wirkung auf das Mäusevolk nicht und stärkt u.a. das Wir-Gefühl der Rasse.

Obwohl Titel und Ankündigung etwas anderes erwarten ließen, setzte sich die in Mönchengladbach aufgeführte Gruppenarbeit nur am Rande mit Josefine & Co. auseinander. Gelegentlich wurden einzelne Sätze oder Halbsätze Kafkas von den ChoristInnen gemurmelt oder auch kräftig in den Raum gestellt. Kafka durfte also eher Aroma beisteuern als Substanz. Die SängerInnen bewegten sich, ohne dass ihnen dabei wohl strengere choreographische Vorschriften auferlegt wurden, vereinzelt oder in Rudeln über die Laufstege und ließen, ebenso wie die wohl teilweise nach dem Zufallsprinzip hinzutretende extrem dünnflüssige Instrumentalmusik, 75 Minuten extrem lang erscheinen.

Erkenntniskritisch oder gar theatral pointiert wird die Tierfabel nicht, sondern zerkrümelt unter einem verblasenen „Konzept“, das allein aufgrund seiner Ambition noch nicht als dergestalt förderungswürdige Kunst erscheint. Kurzum: Die Maus Josefine gelangt, anders als die halbe Hundertschaft grauer Mäuse aus dem Laienspielsektor, nicht ins Rampenlicht. Die Obertitel über der Fußgängerzone werfen die Fragen auf, die das Produktionsteam offensichtlich umgetrieben haben – neckische und tiefsinnige Fragen wie „Lügst du manchmal?“ – „Wozu brauche ich Deine Information?“ – „Was ist ein sicheres Passwort“ – „Wie viel Löcher hat dein Netzwerk?“ – „Bist du eine Zugewinngemeinschaft?“ Auch aus diesem Fragenkanon hätte sich Theater machen lassen. Mit und ohne Musik. Nur hätte es eben gemacht werden müssen.

Nach der Integration eines Amateurchors in die experimentelle Musiktheaterpremiere der diesjährigen RuhrTriennale (Heiner Goebbels, „When the mountain changed its clothing“) scheint die an Peinlichkeitsgrenzen nicht gebundene Vorführung von Laiensingen und -marschieren am Niederrhein ein erfolgreicher Zugang fürs Subventionsschöpfen. Das Projekt „Josephine“ wurde aus den Füllhörnern des NRW-Kultursekretariats und der Kulturstiftung NRW bedient.

Musikalisch basiert es einerseits auf einer Stimmenkladde mit „Modulen“ für vierstimmigen Chor und Vokalsolistenquartett; sie konzipierten die zum Teil auf drei, zum Teil auf und zwischen fünf Notenlinien notierten vokalen Aktionen wie das zart anschwellende und dann wieder ins Nichts zurücktretende „p–u–p–p–u–o–p“ (dieses Kopfmotiv erfahrt eine radikal eintönige „Durchführung“). Bei Ziffer 14 haben alle Stimmen, die „stets chorisch atmen“ sollen, im Pianopianissimo zu pfeifen (wohl in direkter Bezugnahme auf Josefine Maus). Ähnlich pflegeleicht vorgefertigte Bausteine wurden andererseits auch für die Instrumentalisten bereitgestellt. Das eine wie das andere stammt von einem Komponisten mit dem wundersam iberisch-lateinamerikanisch klingenden Firmenlogo Sagardía. Beim Bezieher der Tantiemen dürfte es sich wohl um einen jungen Mann namens Jens Michael Müller handeln. „Sagardia“ freilich kommt bei den BeamtInnen in den Vergabeinstanzen wohl einfach besser an. Vorschlag zu Ungüte: „Sinnreich, Dr. Sinnreich“ wäre übrigens ggf. ein aparter Titel für experimentelles Musiktheater.

Möglicherweise ist der niederrheinische Umgang mit den Orchester-„Modulen“ und den Chor-Fertigbauelementen kritisch gemeint – subkutan ironisch kredenzte Regression als Reaktion auf Regression des Hörens oder Denkens. Vielleicht wollten die jungen Leute an der Odenkirchener Straße irgendwie in die Richtung eines Theaters, das nicht nur im Trüben fischt, sondern wenigstens ein paar helle Blitze zucken lässt. Aber angelangt sind sie dort nicht. Offensichtlich ist das Fördersystem, das sich selbst in der Packungsbeilage seiner „hochqualifizierten unabhängigen“ Entscheidungsfindung rühmt, nur bedingt geeignet, auf dem Weg vom Konzept bis zu einem prickelnden Theaterabend zu begleiten. Es wäre wohl an der Zeit, die Tauglichkeit der Förderinstrumente und -institutionen genauer unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht könnten sie bei einer Evaluationen der Art, die sie jungen Künstlern auferlegen, ja ihre Effizienz und Nachhaltigkeit unter Beweis stellen – sinnreich.

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