Mittags um zwölf kann man hören, wie klein der Ort ist. Glockenläuten erfüllt die Luft, und das gedrungene, graue Schulhaus spuckt pünktlich eine Schar Kinder aus. Zwischen Blumenrabatten grüßt ein Schild: „Blonay lächelt Sie an“. Der Molkereiwarenhändler verkauft Käse der Region an rüstige Damen mit Stoffbeuteln, die Zahnradbahn schiebt sich bergan durch die Wiesen, doch niemand scheint Notiz von der überwältigenden Kulisse zu nehmen: Vom Zentrum des Dorfs fällt der Blick auf das kantige Château de Blonay hoch über dem Genfer See. Das Auge reicht über die schimmernde Fläche des Sees bis nach Frankreich hinüber auf die Savoyer Alpen.
Vielleicht ist es ja mehr als bloßer Zufall, dass der Komponist Paul Hindemith in dieser Schokoladentafelreklamegegend, nur wenige Häuser weiter, seine Oper „Die Harmonie der Welt“ vollendet hat. In den letzten zehn Jahren seines Lebens hat er in Blonay gewohnt, einem Dorf im Schweizer Kanton Waadt oberhalb von Vevey. Hindemith war bereits seit 1951 Professor an der Universität Zürich, aber erst 1953 beschlossen er und seine Frau Gertrud, ihr amerikanisches Exil endgültig zu verlassen.
In ihrer Villa La Chance umgaben sie sich nach 13 Jahren wieder mit Kunstgegenständen und alten Möbeln, die sie in Europa zurückgelassen hatten. „Unser neues Haus lässt sich sehr gut an. Es ist wirklich ein Vergnügen, nach so langen Jahren alle seine Sachen wieder beieinander zu haben“, schrieb Hindemith nach dem Einzug an den Schott Verlag. „Die Adresse ist einfach: Blonay.“ Womöglich wollte der Komponist das auch nicht weiter präzisieren. Nur die allernächsten Vertrauten hatten Zutritt zu diesem Refugium; außer der Haushälterin soll keine Frau je bei den Hindemiths in La Chance gewesen sein.
Heute beherbergt La Chance gelegentlich den Stiftungsrat der Hindemith-Stiftung; auf Anfrage ist es zu besichtigen. Von Hindemiths Arbeitszimmer aus, wegen der Panoramascheiben „Aquarium“ genannt, kann der Besucher das ganze Landschaftspanorama sehen – wenn erst einmal die hölzernen Rolladen hochgekurbelt sind, die das Haus den größten Teil des Jahres in Dunkelheit tauchen. Scheint das Tageslicht hinein und bewegt ein Luftzug die Gardinen, dann wirken die Räume, als wäre der Hausherr nur eben ins Nachbarzimmer gegangen. Von dem Geist, der es einst durchweht haben muss, zeugen noch die Werkausgaben und Partiturfolianten, der Flügel im Wohnzimmer, Bühnenbildmodelle, Bücher - und allenthalben Löwen. Die hängen als fernöstliche Masken an der Wand oder liegen als Keramiken oder Bronzedosen auf den Kommoden. Vor allem aber hat der Hausherr selbst unzählige Löwen auf Wände, Schränke und Lampenschirme gemalt und gezeichnet. Gemeint war seine Frau; der Löwe war ihr Sternzeichen. In seinem Exemplar von Hans Joachim Mosers „Musikgeschichte in 100 Lebensbildern“ findet sich, von der Hand des Komponisten hinzugefügt, ein Porträt des berühmten Löwen Pirol Wapuff, der anhand der Charakterisierung unschwer als Gertrud Hindemith zu erkennen ist.
Nahezu unverändert schmiegt sich das Haus unter die alten Bäume an die abfallende Wiese. In der Gartenarbeit fand Hindemith Erholung zwischen all den Reisen, die seiner Gesundheit zunehmend zusetzten. Am Ende des Gartens errichtete er einen winzigen Pavillon, sein „Komponierhäuschen“. Auch dort umgab er sich mit allerhand Zeichnungen: Noch heute lesen die Löwen im Liegestuhl die „Gazette de Lausanne“, musizieren mit Engelsflügeln in den Wolken oder liegen mit gefalteten Tatzen neben ihm, während er arbeitet.
Bis 1957 lehrte Hindemith in Zürich, als Dirigent trat er weiterhin auf. Kompositorisch jedoch war er, der klassisch Moderne, längst gegenüber den Vertretern der Avantgarde wie Stockhausen und Boulez, Ligeti und Kagel in die Defensive geraten. Hindemith, der einst selbst die Donaueschinger Musiktage mitveranstaltet hatte und später von den Nationalsozialisten als entarteter Künstler verfemt worden war, polemisierte gegen die sich zusehends aufsplitternden Richtungen der Neuen Musik – was die Neuerer mit gleicher Schärfe erwiderten. Tatsächlich wandte sich Hindemith in den letzten Jahren vor seinem Tod 1963 wieder der musikalischen Tradition zu. Er beschäftigte sich intensiv mit der Zwölftonkomposition; in seiner „Pittsburgh Symphony“ etwa zitiert er Anton Webern.
Die Auseinandersetzung mit Alter Musik, besonders mit Vokalwerken, spiegelt sich in seinem Spätwerk wider; sein letztes vollendetes Werk ist eine Messe für gemischten Chor a cappella. Nach dem Tode Gertrud Hindemiths 1967 fiel ihr gesamtes Vermögen an die Hindemith-Stiftung. Deren Errichtung hatte sie testamentarisch bestimmt; die Hindemiths hatten keine Kinder. Dank der Aufführungstantiemen kann die Stiftung nicht nur La Chance erhalten und das Hindemith-Institut in Frankfurt am Main finanzieren, das den musikalischen Nachlass des Komponisten verwaltet und über ihn forscht. Sie hat außerdem ein weiteres Anwesen in Blonay erworben und dort das „Hindemith-Musikzentrum“ eingerichtet, das Musikern Unterkunft und ideale Probenbedingungen bietet und die Schönheit der Umgebung gleich dazu. Bis 2033 fließen die Tantiemen noch, dann endet der Urheberrechtsschutz. Spätestens dann entscheidet sich auch, ob das Kleinod erhalten bleiben kann. Dazu müsste die Stiftung freilich manche Begehrlichkeit abwehren; die vielen nagelneuen Villen mit den Geländewagen in der Einfahrt lassen ahnen, was ein Quadratmeter Baugrund in dieser Gegend kosten mag. An La Chance scheinen solch schnöde Erwägungen abzuperlen. Als sich das gusseiserne Gartentor schließt, ist das Haus hinter den schweren Rolläden schon wieder in seinen Dornröschenschlaf gefallen.