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Thomas Schäfer 2018. Foto: Hufner

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Der Neue-Musik-Nabel der Welt: die Darmstädter Ferienkurse

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Die Darmstädter Ferienkurse sind ein gewaltiges Unternehmen mit erlauchter Geschichte. Sie fanden erstmals bereits 1946 statt und entwickelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der bedeutendsten Foren für zeitgenössische Musik überhaupt. Das who’s who der Avantgarde-Komponisten und Theorie-Größen gab sich in Darmstadt die Klinke in die Hand: Theodor W. Adorno, Heinz-Klaus Metzer, Carl Dahlhaus und Rudolf Stephan prägten den Theorie-Diskurs, Komponisten wie Edgar Varèse, Ernst Krenek, John Cage und Olivier Messiaen sorgte für internationales Flair und Weltgeltung, später prägten Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono das Klima, bis heute sind Helmut Lachenmann und Brian Ferneyhough dabei.

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Neue Musik fühlt sich bekanntlich abseits der Metropolen besonders wohl. Das ahnte ja schon Richard Wagner, als er bewusst in die oberfränkische Provinz nach Bayreuth ging, um sich und das Publikum nicht durch Großstadt-Trubel von der Konzentration auf das damals Neue in der Musik ablenken zu lassen. Heute sind die Hotspots der Neuen Musik Donaueschingen, Witten, und: Darmstadt.

Die hessische Stadt ist kein glamouröser Ort, trotz Fußgänger- und Shoppingzonen entwickelt sich kein urbanes Lebensgefühl. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört, Teile des Zentrums sind heute Baustelle. Die Konzert-Spielorte des Festivals, das vom Internationalen Musikinstitut Darmstadt ausgerichtet wird, sind über die ganze Stadt verteilt.

„Rückfällige Verhaltensmuster“ beim Hotspot der Neuen Musik

Zum Beispiel in der Halle der Centralstation. Am Tag vor der Eröffnung stehen hier im Herzen von Darmstadt ein E-Piano und zwei Pauken eng beieinander. An der aufwändigen Lichtregie wird bei der Probe noch gebastelt, dann kommen zwei Performer auf die Bühne, gehen an die Instrumente, stehen Rücken an Rücken und legen los. Es klingt jazzig, improvisiert, „schräg“. Eine Performerin tritt auf Zehenspitzen auf die Bühne, rückt an den Noten des Paukers und zieht schließlich die Pauke weg. Sie stakst künstlich abgezirkelt stets in geraden Linien und rechten Winkeln. Wiederholt die Prozedur mit dem E-Piano. Dann kommt eine Hornistin an den Bühnenrand, traktiert ihr verstärktes Instrument mit gepresster Luft, ohne das ein Ton entsteht, bloß ein gedrücktes Geräusch. „Growing Sideways – Choreografische Kompositionen in rückfälligen Verhaltensmustern“ heißt die hier geprobte Produktion aus Wien von Brigitte Wilfing und Jorge Sánchez-Chiong, die am zweiten Tag zur Aufführung kommen wird.

Das Pre-Opening-Konzert findet tags darauf in einer Turnhalle der Edith-Stein-Schule statt. Das Prague Music Perfomance Orchestra spielt „Language Music“ des US-amerikanischen Komponisten, Multi-Instrumentalisten und creative Jazzers Anthony Braxton, dem ein Schwerpunkt gewidmet wird und der auch als Dozent in Darmstadt ist. Roland Dahinden leitet die Aufführung, im Untertitel „conducted improvisation for orchestra“. Ein groß besetztes Werk mit Choristen, einem bunten Instrumentarium von der Gambe über das Cimbal bis zu mehrfach unterteilten Violinen mit hohem Improvisations-Anteil. Dahinden gibt sparsame Zeichen, die offenbar stets strukturelle Wechsel ankündigen, zeigt Zahlen an. Ein wuchtiges, komplexes, etwa einstündiges Werk.

Mehr als „nur“ ein Festival

Das Festivalzentrum befindet sich nicht weit davon entfernt in der Lichtenberg-Schule, ein nüchterner Zweckbau der 1960er Jahre in einer ruhigen Wohngegend. Seit 2009 verantwortet Thomas Schäfer das künstlerische Programm und Management der alle zwei Jahre stattfindenden Ferienkurse. Deren Alleinstellungsmerkmal sieht er in ihrer weltweit einmaligen Konstruktion.

„Ja, ich glaube, es liegt vor allem in der Verbindung von Akademie, Festival und Theorieraum. Darmstadt war ja eigentlich immer schon ganz stark ein Diskursort, und von dorther kommt auch die ganze theoretische Diskussion, die wir ja auch von Darmstadt immer wieder angeschoben gesehen haben. Ich würde die drei Säulen nicht einzeln sehen, wir betrachten sie eigentlich als ein Gebilde, das sich auch gegenseitig befeuert.“

Als treibende Kraft beschreibt er vor allem den Willen zur Veränderung: „Wir versuchen, die Diskussionen, die geführt werden in der Neuen Musik-Szene, aber auch die darüber hinaus gehenden gesellschaftlichen Fragen aufzugreifen. Es sind die Impulse, die auch aus der Szene kommen, auch von den KomponistInnen, von den KünstlerInnen, mit denen wir arbeiten. Das nehmen wir auf und versuchen, es zu einem Programm zu fügen. Und selbstverständlich empfangen wir sehr viel Input auch aus der Akademie: Dadurch, dass 400 junge Leute aus 50 Nationen zu uns kommen. Die bringen natürlich viel mit!“

Weltweit klingeln Wecker für eine Chance auf Darmstadt

Mehr als 60 Lehrende treffen auf etwa 400 Akademisten, manche Instrumentalkurse- und Workshops sind nur über ein Bewerbungsverfahren zu buchen, besonders begehrt sind die Plätze für die Kompositionskurse und Workshops. „Bei den KomponistInnen sind tatsächlich innerhalb weniger Stunden nach Anmeldungsbeginn die Plätze weg. Wir kriegen tatsächlich schon Monate früher Anfragen. Da sitzen InteressentenInnen wirklich zum Beispiel in China oder in den USA, stellen sich den Wecker und dann: Los geht’s!“

In Darmstadt sind alle vorstellbaren Lehrsituationen möglich, es gibt den klassischen 1:1-Unterricht, es gibt Gruppen, Workshops, Panels, Lectures. Die Formate würden nicht vorgegeben, so Schäfer. Bei den Instrumentalkursen dürfe man keinen klassischen Meisterkurs erwarten, ein Wort, das er bewusst vermeide: „Es ist ja das genaue Gegenteil. Der Prozess steht im Vordergrund.“

Zu den glücklichen Akademisten der Kompositionsklasse gehört Farhad Ilaghi Hosseini, der an der Musikhochschule Frankfurt Komposition studiert. „Darmstadt hat eine lange Geschichte in der Neuen Musik und ich wollte immer schon hinkommen. Alle sind sehr interessant. Also, ich würde gern Chaya Czernowin treffen, Sarah Nemtsov, Carola Bauckholt und vielleicht auch Brian Ferneyhough.“

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Das Eröffnungskonzert bestreitet das Klangforum Wien unter der Leitung von Emilio Pomárico mit Georges Aperghis‘ „Situations“. Foto: Kristof Lemp.

Das Eröffnungskonzert bestreitet das Klangforum Wien unter der Leitung von Emilio Pomárico mit Georges Aperghis‘ „Situations“. Foto: Kristof Lemp.

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Das Programm der Konzerte der Akademisten ergibt sich im Detail erst im Laufe der gemeinsamen Arbeit. Feststehen aber natürlich die Konzerte mit den Gast-Ensembles. Das Eröffnungskonzert bestreitet das Klangforum Wien unter der Leitung von Emilio Pomárico mit Georges Aperghis‘ „Situations“. Spielort ist eine große Sporthalle im Festivalzentrum, der schmucklose Saal ist voll. Das Spitzenensemble spielt das ihm gewidmete Werk von Aperghis mit gewohnter Souveränität und Delikatesse, immer wieder imponiert bei den Wienern, mit welch Selbstverständlichkeit das Geforderte nicht nur perfekt beherrscht, sondern spielerisch und hoch expressiv gestaltet wird. Pomárico tut das Seine hinzu, indem er weit hinaus geht über das bloße Organisieren, das immer noch häufig bei Aufführungen Neuer Musik zu erleben ist.

Das Publikum: die üblichen Verdächtigen der Neue-Musik-Szene, ein klassisches Konzertpublikum aus Darmstadt und dem Großraum Frankfurt und das gewisse Extra

Schäfer beschreibt darüber hinaus eine Darmstädter Besonderheit: „Wir haben die luxuriöse Situation, dass ein Teil unseres Publikums unsere KursteilnehmerInnen sind, die einfach alles hören wollen. Das ist für die Ensembles natürlich traumhaft, denn es entsteht eine schöne Energie. Und das Publikum ist zwischen 20 und 30 Jahre alt.“

Als inoffizielles Motto der Darmstädter Ferienkurse bezeichnet Schäfer das Nachdenken über die Frage, wie künstlerische Zusammenarbeit heute aussieht. Heute – das heißt nach der Pandemie und inmitten neuer weltweiter Krisen. Und während eines Generationenkonflikts, der auch Fragen des kreativen Schaffens betrifft.

„Wir müssen neue Formen der Zusammenarbeit finden, vielleicht auch neuen Austausch auf musikalischer Ebene. Und deswegen betrifft es ein Generationengespräch. Wir haben einerseits Anthony Braxton hier und Helmut Lachenmann, Braxton ist 78 Jahre alt und war noch nie in Darmstadt. Wir haben aber eben auch ganz junge Komponisten und Komponistinnen und junge Dozentinnen bei uns im Team. Das ist genau der Austausch, den ich möchte. Dass es jetzt nicht nur die ganz Jungen sind. Ich war gerade mit Braxton essen, der freut sich sehr auf diese 40 jungen Leute, die zu ihm kommen wollen.“

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