Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegen manchmal Welten. Das gilt auch für Valery Gergiev. Als der russische Dirigent am Freitag auf einer Pressekonferenz in München seinen Vertrag bei den Philharmonikern unterzeichnete, kündigte er an, ab 2015 als Nachfolger von Lorin Maazel mit dem Orchester weiter an Farben und Strukturen feilen zu wollen. Bei seinem Konzert mit den Münchner Philharmonikern abends im Gasteig klang das anders, jedenfalls hat man Bruckners siebte Sinfonie selten so laut gehört.
Weil die Blechbläser im Tutti alles dominierten, lauschte man einer Ausbalancierung der Streicherfarben und Klangstrukturen vergeblich. Dynamisch überwog alles bis zum Mezzoforte, zuweilen verirrte sich auch ein Mezzopiano im allgemeinen Getöse, weshalb das Schattenhaft-Umdüsterte im Kopfsatz und im Adagio nicht annähernd verlebendigt wurde. Einmal mehr dirigierte sich Gergiev in Ekstase, was bei einem Teil des Publikums seine Wirkung nicht verfehlte – allerdings lässt sich damit ein Orchester nicht klanglich erneuern.
Dies wäre aber zwingend notwendig, denn seit dem Ableben von Sergiu Celibidache wirken die Philharmoniker mehr oder weniger orientierungslos. Statt einen Neuanfang und eine Neuausrichtung zu wagen, wurden Dirigenten berufen, denen man zutraute, an diese Ära nahtlos anzuknüpfen. Andererseits waren James Levine und Christian Thielemann Dirigenten, die sich ganz besonders im Opernfach wohlfühlen – was letztlich auch für Gergiev, langjähriger Leiter des Petersburger Mariinski-Theaters, gilt.
Es ist schon grotesk, dass die Münchner Philharmoniker mit konzertanten Opernaufführungen einem Genre hinterherhecheln, das nicht zu ihrem Auftrag gehört und das beim benachbarten Bayerischen Staatsorchester ohnehin bestens aufgehoben ist. Gleichwohl kündigte Gergiev auf der Münchner Pressekonferenz an, ebenfalls mit dem Orchester konzertante Opern realisieren zu wollen. Weitaus wichtiger wäre es indes, die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zu pflegen. Ein Klangkörper, der sich als das „Orchester der Stadt“ bezeichnet, sollte auch dies abdecken – zumal die Philharmoniker stets überraschen, wenn sie dieses Repertoire aufführen.
So war das auch, als nun vor Bruckners Siebter „Fachwerk“ mit Bajan von Sofia Gubaidulina erklang (Solist: Geir Draugsvoll). Ein Piano blühte in den Streichern auf, wie es reicher und omnipräsenter in der schwierigen Gasteig-Akustik nicht zu denken ist. Gubaidulinas Tonsprache versteht Gergiev; sobald es aber avancierter und komplexer wird, verliert er sich – selbst bei Schostakowitsch, den er zu seinem Kernrepertoire rechnet. Das zeigte sich, als Gergiev im vorigen Jahr mit den Philharmonikern einen Schostakowitsch-Zyklus realisierte: Die Sinfonien Nr. 14 und 15 gingen ähnlich gründlich schief wie seine Petersburger Einspielung der Oper „Die Nase“.
Wie Gergiev zudem Mozart und Beethoven oder Brahms und Bruckner stemmen möchte, bleibt ebenfalls offen. Doch vor allem ist es kein Geheimnis, dass sich nicht nur jüngere Musiker einen jüngeren Chefdirigenten gewünscht hätten. Tatsächlich wurde auch mit Andris Nelsons geliebäugelt, dem jedoch abgeraten worden sein soll. Ob sich das Orchester mit Gergiev endlich dem Heute und Morgen stellen wird, ist klanglich, interpretatorisch und programmatisch ungewiss. Gergievs Vertrag gilt vorerst bis 2020, ähnlich wie Maazel scheint er ein Lückenfüller zu sein – weil es wohl keine andere Option gab.