Klein aber fein ist es geblieben und wartet doch mit so manchem Superlativ auf: Das „beste Publikum der Welt“ sei nicht in Salzburg oder Bayreuth, nicht in New York oder Tokio, sondern im kleinen Husum zu finden, verlautete Tastenstar Marc André Hamelin vor drei Jahren zum 20. Jubiläum der “Raritäten der Klaviermusik”. Inzwischen hat sich endlich zum ernst genommenen Kulturevent an der Nordseeküste gemausert, was lange Zeit ein Geheimtipp unter Klavierfreaks war.
Dass es sich dabei tatsächlich um das „Klavierbayreuth“ handelt, beweist allein schon die Tatsache, dass man hier auf die Erfüllung seiner Kartenwünsche mittlerweile fast genauso lang warten muss wie auf dem grünen Hügel. Und wie dort weiland Wolfgang Wagner wacht auch Peter Froundjian sorgsam darüber, dass sich an der bewährten Form nichts ändert: Weiterhin gibt es also acht Klavierabende im gerade einmal 160 Zuhörer fassenden Rittersaal im Schloss vor Husum, eine kleine Ausstellung und eine Matinee, diesmal über den genialen Pädagogen Theodor Leschetitzky, aus dessen Schule Legionen großer Pianisten vom Schlage eines Artur Schnabel oder Ignaz Paderewski kamen und der selbst ein bemerkenswerter Klavierkomponist war. Und auch im 23. Jahr holte der Berliner Pianist und rührige Festival-Leiter Froundjian neue unbekannte Schätze aus der Raritätenkiste, die offensichtlich nicht leerer, sondern immer voller wird.
Nach dem bisher favorisierten „goldenen Zeitalter des Klaviers“, das spätromantisches Flair bis etwa 1930 kultivierte, enthüllt jetzt zunehmend das 20. Jahrhundert seine Reichtümer, gespielt von Pianisten, deren Lust an der Entdeckung des Unbekannten sich auch in eigenwilligen und fantasievollen Interpretationen niederschlägt. Nach wie vor kann sich das etablierte Konzertbusiness davon eine dicke Scheibe abschneiden.
Vor allem das Recital des Franzosen Denis Pascal bot eine solche Fülle an subtilen Zusammenhängen und delikaten Klangerlebnissen, wie sie in den Meisterklavierabenden der Metropolen mit ihren ewig gleichen Programmen höchst selten anzutreffen ist. Mit erlesener Anschlagskunst schlug er den Bogen zwischen französischen Werken verschiedener Epochen, legte gewissermaßen die Tradition in der Moderne bloß – und umgekehrt. Eine kleine Rameau-Allemande in a-Moll wurde so zum höchst individuellen Klangkunstwerk voll sprechender Nuancen und konnte nahtlos das ebenfalls sehr meditative später in fragile Figurationen aufgesplitterte „Quelques danses“ von Ernest Chausson übergehen. „Prélude, récitativ et final“ von Tony Aubin, einem heute völlig vergessenen Kompositionsprofessor des traditionell für Innovationen nicht gerade empfänglichen Pariser Conservatoires, ist in frei schweifender Tonalität 1933 natürlich total „aus der Zeit gefallen“ und entwickelt doch morbiden Reiz in seinen schillernden Auflösungstendenzen. Der Debussy-Zeitgenosse Charles Koechlin wirkt da in seiner „Ballade“ op. 50 bedeutend fortschrittlicher; ihr scheinbar ereignisloses, von Pascal jedoch leuchtend koloriertes Fortschreiten nahezu wie ein Vorwegnahme Morton Feldmans – was die Husumer Hörergemeinde denn auch prompt in zwei Lager spaltete.
So empfanden die einen den Auftritt der Brasilianerin Eliane Rodriguez als Belebung des grauen Konzerteinerleis, ein rosagolden gefiederter Paradiesvogel, der Bachs Orgel-Fantasie und Fuge g-Moll virtuos aufpeppte und mit eigenen „Momentos musicais“ Kreativität bewies. Andere bemängelten eine gewisse stilistische Gleichförmigkeit und eine Nonchalance zumal der Pedalbehandlung, die etwa den Titel „Im Nebel“ von Leos Janáĉek allzu wörtlich nahm. Bei aller Härte der „russischen Schule“ setzte Konstatin Scherbakov dem immerhin gnadenlos ausleuchtende Klarheit entgegen und bot eine klanglich ansprechende „Java-Suite“ von Leopold Godowsky, die exotisierende Ausflüge in Gamelan-Landschaften mit alteuropäischer Virtuosität effektvoll verband. Janice Weber stemmte Ignaz Paderewskis ausladende „Variationen und Fuge es-Moll“ – Schwerstarbeit an gewichtiger Kost – mit erstaunlicher Natürlichkeit und ließ in Erwin Schulhoffs rhythmisch gepfefferter Sonate Nr. 1 ironische Funken aufblitzen.
Die Amerikanerin Nina Tichman überzeugte durch die unbestechliche Klarheit ihres Spiels, gab darüber hinaus einem unbekannten, aus barocken Formen kapriziös ausbrechenden Suitenfragment von Mozart klangliche Wärme und deckte erstaunliche Parallelen zwischen der skrjabinesk aus der Tonalität herausstrebenden 2. Sonate (1915) von Samuel Feinberg und der in ähnlich flüchtigen Formen zum Serialismus führenden „Sonata“ (1945/46) von Elliott Carter auf. Jonathan Plowright brachte mit Busonis „10 Variationen über ein Thema von Chopin“ ein gewichtig zwischen Brahms und Liszt changierendes Werk zu Gehör, dessen Düsternis ein kurzes Zitat des „Minutenwalzers“ aufhellt.
In die reiche russische Szene führte zum Schluss Jonathan Powell: In Alexander Mossolows (der Schöpfer des futuristischen Orchesterstücks „Eisengießerei“) „Turkmenischen Nächten“ von 1929 schimmern zarte Folklorefloskeln durch brutalste Kakophonien hindurch wie antike Tonscherben unter Trümmern seelenloser Neubauten; sein lettischer Zeitgenosse Jānis Medinš (1890-1966) belässt es in „24 Dainas“ bei einfacheren, archaisch-reduzierten Mustern. Eine Generation vorher suchen Georgij Conus und Konstantin Eiges feinsinnig Auswege aus dem Käfig der Tonalität. Doch Powell, unermüdlich auf der Suche nach Repertoire-Erweiterungen, führte auch in die schwer parfümierte Welt einer „Fantasie es-Moll“ (1912) des Österreichers Egon Kornuth – der luxuriösen Klangwelt des nahezu gleichaltrigen Erich Wolfgang Korngold nicht unähnlich –, deren Verhaftetsein im k.u.k.-Milieu der britische Nachfahre Michael Finnissy (geb. 1946) in seinen „Strauss-Waltzes“ mit messerscharfen Dissonanzen persifliert.