Wohl kein internationales Festival zeitgenössischer Musik hat so lange Bestand wie das der 1922 gegründeten Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM). Lange Jahre ist es Schauplatz wichtiger Uraufführungen gewesen, angefangen von Berg und Webern bis zu Stockhausen, Kagel, Ligeti und Yun. Im Laufe der Geschichte hat es seinen ursprünglich angestrebten Anspruch als Vermittler der „Essenz der musikalischen Produktion jedes Jahres“ zwar kaum noch erfüllen können, dafür aber konnte es mit der Einbeziehung der Musik lateinamerikanischer und asiatischer Länder, die in den achtziger Jahren Mitglied der Gesellschaft wurden, seinen internationalen Horizont beträchtlich erweitern.
Das ändert allerdings nichts daran, dass die Weltmusiktage für die Musik niemals die Bedeutung erlangt haben wie die Olympischen Spiele oder die Fußballweltmeisterschaften für den Sport, sondern heute eher ein Ereignis von lokaler und regionaler Bedeutung darstellen, zu dem sich eine kleine Schar von Delegierten der Mitgliedsländer, im Programm vertretenen Komponisten und Festival-Globetrottern gesellt. Diese Entwicklung wird natürlich auch vom (turnusmäßig wechselnden) IGNM-Vorstand wahrgenommen, der seit Jahren versucht, etwas dagegen zu unternehmen und die Gesellschaft zu einem wirksamen Instrument für den Austausch Neuer Musik unter ihren Mitgliedsländern zu verändern. Das hapert allein schon an deren unterschiedlich gewachsenen Strukturen, die von hoher Aktivität bis zu völliger Lethargie, von demokratisch gewählten und regelmäßig wechselnden Vorstandsmitgliedern bis zum immergleichen Vertreter, von der Repräsentation eines ganzen Landes bis zu einer einzelnen Institution (Komponist, Ensemble, Veranstalter) reichen. Da-rum schlagen die Vorstands-Strategen jetzt vor, jeweils eine Stückeliste der Weltmusiktage zu erstellen, die einem Ring von „globalen Partnern“ zur Aufführung angeboten wird. Das erinnert an die Jahre 1996 bis 1998, in denen die IGNM versucht hat, die Auswahl ihrer Internationalen Jury durch eine aufwendig gestaltete „Komponistenbroschüre“ unter die Veranstalter zu bringen, die aufgrund mangelnder Resonanz nach drei Jahren eingestellt wurde.
Der Gedanke, dass Konzertveranstalter auf den Weltmusiktagen aufgeführte Stücke in ihre Programme aufnehmen, mag nicht recht zünden, solange die Weltmusiktage an und für sich keine große Attraktion darstellen. Dem steht schon das begründete Interesse der fünfzig Mitgliedsländer entgegen, dass mindestens eines der Stücke, das sie eingereicht haben, auch aufgeführt wird. Dass im vergangenen Jahr bei den Stuttgarter Weltmusiktagen laut Festivalreport nur sieben Prozent des Programms aus diesen Einsendungen rekrutiert wurde, hat zu allerlei Unruhe unter den Mitgliedern geführt. Wenn die Organisatoren sich auf die Hoheit der Internationalen Jury berufen, kann man ihnen zumindest attestieren, dass sie diese Jury schon so besetzt haben, dass ein allein aus eurozentristischer Sicht hochkarätiges Festival zu erwarten war.
Die Hongkong-Chinesen, die das Weltmusikfestival nach 1988 und 2002 nun schon zum dritten Mal ausgerichtet haben, sind deshalb den anderen Weg gegangen, nicht zuletzt, weil der derzeitige Präsident der Gesellschaft, Richard Tsang, einer der Ihren ist: Sie verzichteten auf eine Internationale Jury und setzten stattdessen eine Programmkommission ein, die aus lokalen Komponisten und Dirigenten bestand. Ausgeschrieben war das Festival nicht nur für das übliche westliche Instrumentarium, sondern ausdrücklich auch für traditionelle chinesische Instrumente (Orchester- und Kammerbesetzung) sowie für Mischungen beider Typen. Dazu kam, dass das Weltmusikfest zum ersten Mal mit dem jährlichen Festival und der Konferenz der Asian Composers’ League (ACL) koordiniert wurde, was einen zusätzlichen Input aus den asiatischen Ländern versprach. Aus den insgesamt 604 Einsendungen der IGNM-Sektionen, ACL-Mitglieder, einzelnen Komponisten und Repertoirestücken der eingeladenen Orchester und Ensembles wählte die Kommission aus, was einerseits in ihre Besetzungskategorien passte und andererseits dem Gießkannenprinzip, möglichst alle Mitgliedsländer der IGNM und der ACL in angemessener Weise zu berücksichtigen, entsprach. Für Deutschland ergab sich, dass keines der von der nationalen Jury ausgewählten Werke (von Mark Andre, Gordon Kampe, Enno Poppe, Iris ter Schiphorst und Anna Søhold) aufgeführt wurde, sondern ein recht plärriges Stück für drei Guzhengs (chinesische Zithern) von Stefan Hakenberg, einem in Alaska lebenden Deutschen, sowie eine kaum mehr chinesisch klingende Komposition des in Hamburg lebenden Ligeti-Schülers Xiaoyong Chen für west-östliches Ensemble. Bei dieser Auswahl schien eher die Besetzung als der Gehalt eine Rolle gespielt zu haben.
Dieser Eindruck stellte sich bei vielen der aufgeführten Stücke ein, die zumeist entweder folkloristische Züge oder – in den gemischten Ensembles – die Gegenüberstellung von west-östlichem Denken bevorzugten. Eine überzeugende Synthese, wie sie der in England lebende Malaysier Tazul Izan Tajuddin in seiner Komposition „Tenuan II“ für Flöte, Celesta, Klavier und Streichorchester mit sich ständig neu verwebenden Klangmustern vorstellte, war eher die Ausnahme.
Wenn die IGNM mit ihren Weltmusiktagen in das internationale Festival-Karussell einsteigen möchte, kann sie das wohl nur, wenn sie deren künftigen Veranstaltern eine gewisse Gestaltungsfreiheit gibt, anstatt sie mit ihren Proporz- und Verfahrensregeln immer weiter einzuengen. Dieses Thema wird ein Dauerbrenner der Generalversammlung bleiben, solange der Konflikt zwischen der interessebedingten Vertretung der Mitgliedsländer und dem Anspruch, ein weltumspannendes Großereignis zu programmieren, weiter besteht.